Der Ärztliche Sachverständigen-beirat „Berufskrankheiten“
Mit der Einführung der Berufskrankheit in das System der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahr 1911 und der Aufstellung einer ersten offiziellen Liste von 11 Berufskrankheiten 1925 ergab sich die Notwendigkeit einer Definition des Begriffs „Berufskrankheit“ als Kriterium für die Aufnahme weite-rer Krankheitsbilder in die Entschädigungs-fähigkeit (Giesen 2008a). Bei der Bezeichnung von Gesundheitsstörungen als Berufskrankheiten ist der Verordnungsgeber (Bundesregierung) an die zunächst im § 551 Reichsversicherungsordnung (RVO) und aktuell im § 9 Abs. 1 SGBVII festgelegte Definition der Berufskrankheit gebunden:
Eine Krankheit, die nach den Erkenntnis-sen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht ist, de-nen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Die gesetzlich vorgeschriebene Fixierung auf Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft machte einen Zugriff auf ärztlich-wissenschaftliche Expertise notwendig, so dass in 1952 ein Ärztlicher Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ eingerichtet wurde, der bis heute beim federführenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) angesiedelt ist. Es handelt sich hier-bei um ein „internes“ beratendes Gremium ohne einen im Gesetz oder in der Berufskrankheitenverordnung verankerten autar-ken Status. Dies unterscheidet den Sachverständigenbeirat vom Ausschuss für Ge-fahrstoffe (AGS) und vom Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed), die ebenfalls beim BMAS angesiedelt sind, aber wegen ihrer eigenen Entscheidungskompetenz in ihrer Zusammensetzung einen Proporz der betrieblichen Sozialpartner mit ergänzender Repräsentanz der Behörden und der Wissenschaft widerspiegeln. Wegen dieser „internen“ Beratungsfunktion werden die ehrenamtlichen Mitglieder des Ärztlichen Sachverständigenbeirats ausschließlich vom BMAS benannt.
Gemäß höchstrichterlicher Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts (BSG) müssen die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zur Aufnahme eines Krankheitsbildes in die Liste der Berufskrankheiten führen, der „herrschenden Lehrmeinung“ entsprechen, d. h. im Spektrum der arbeitsmedizinischen Wissenschaft keine Einzel- oder Außenseitermeinung darstellen. Dies wird durch die übliche Zusammensetzung aus Vertretern von 7 arbeitsmedizinischen Lehrstühlen, einem in arbeitsmedizinischen Fragestellungen erfahrenen Lehrstuhlinha-ber für medizinische Statistik und Epidemio-logie, zwei leitenden Werksärzten aus verschiedenen Industriebereichen sowie zwei durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten aus-gewiesenen Staatlichen Gewerbeärzten si-chergestellt (Giesen 2008b). Zwei hochrangige Vertreter der Gesetzlichen Unfall-versicherung ohne Stimmrecht und Repräsentanten des BMAS und dessen Oberbehörde (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) gewährleisten die Praxis-tauglichkeit und juristische Klarheit der Beratungsergebnisse.
Während die Ergebnisse der Beratungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats in den ersten Jahren nach 1952 zwar dem Ver-ordnungsgeber mitgeteilt, aber nicht routinemäßig der Öffentlichkeit zugänglich ge-macht wurden, änderte sich die Praxis im Jahr 1963 mit der Veröffentlichung der ers-ten „Merkblätter für den anzeigenden Arzt“. Zweck der amtlichen Merkblätter war es, die Kriterien zu nennen, nach denen ein Arzt oder Zahnarzt zwecks Erfüllung seiner Meldepflicht nach § 202 SGBVII seinen Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit als begründet ansehen kann. Im Laufe der Zeit verstärkte sich dann die Forderung einer kritischen und mittlerweile informierten Politik und (Fach-)Öffentlichkeit, Ergebnisse von Gremienarbeit transparent, nachvollziehbar und überprüfbar präsentiert zu bekommen. Ende 1992 wurde daher eingeführt, Wissenschaftliche Begründungen auszuarbeiten und bekannt zu machen (Giesen 2008b).
Diese Verbesserung der Transparenz brachte jedoch auch Nachteile. Zum einen verlängerte sich bei limitierten Ressourcen der ehrenamtlich tätigen Experten die Bearbeitungs- und Beratungsdauer für die Empfehlung neuer Berufskrankheiten erheblich. Die Doppelarbeit, sowohl wissenschaftliche Begründungen als auch Merkblätter für dieselben Berufskrankheiten zu verfassen barg die Gefahr, dass neue Merkblätter immer mehr den Charakter einer Kurzversion der jeweiligen wissenschaftlichen Begründung annahmen. Schließlich kam es bei der Berufskrankheit Nr. 1317 „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder ihre Gemische“ infolge der notwendigen Verkürzung im Merkblatt zum Eindruck einer inhaltlichen Diskrepanz zur wissenschaftlichen Begründung und zu einer aufgeheizten öffentlichen Diskussion.
Zum anderen widersprach diese Praxis dem Subsidiaritätsprinzip im föderalen Sys-tem. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entschied daher, die Arbeit des Ärztlichen Sachverständigenbeirats auf die Kernaufgabe der „Pflege“ der amtlichen Liste der Berufskrankheiten, also auf die Erarbeitung von Wissenschaftlichen Begründungen für neue und von Wissenschaft-lichen Empfehlungen für die Präzisierung und Aktualisierung von bereits bestehenden Berufskrankheiten zu beschränken und die Erstellung von Merkblättern für den anzeigenden Arzt einzustellen. Die Umsetzung und Anwendung des Berufskrankheitenrechts auf die einzelnen Erkrankten ist Aufgabe der Gesetzlichen Unfallversicherung und der zuständigen Gerichte; dementsprechend wurden von der ersteren für einzelne Berufskrankheiten Konsensempfehlungen für die Beurteilung des Einzelfalls veröffent-licht (z. B. Königsteiner Empfehlung, Reichen-haller Empfehlung).
Mitunter wird die Forderung erhoben, den Ärztlichen Sachverständigenbeirat „Be-rufskrankheiten“ mit Vertretern anderer Fächer als Arbeitsmedizin und Epidemiologie zu verstärken. Dies ist aus zwei Gründen nicht sinnvoll. Zum einen liegt der Fokus der klinisch-kurativen Fächer auf Diagnostik und Therapie von Erkrankungen, während die Arbeitsmedizin und die Arbeits-epidemiologie die Wechselbeziehung zwischen Gesundheit und Arbeit und die damit zusammenhängenden Fragen der arbeitsbedingten Kausalität bearbeiten. Die klini-sche Sicherung der Krankheitsdiagnose ist dabei Ausgangspunkt und Vorbedingung für die Berufskrankheiten-spezifische Erörterung des Kausalzusammenhangs mit der versicherten Arbeitstätigkeit. Zum anderen betreffen Berufskrankheiten verschiedene Organsysteme und damit diverse klinischen Fächer, deren Vielfalt von Allergologie bis Zahnmedizin nicht im Beirat repräsentiert werden kann, ohne seine Funktionsfähigkeit zu gefährden. Deshalb werden externe Sachverständige aus verschiedenen medizinischen Fachgebieten bei Bedarf ad hoc zu den Beratungen und schriftlichen Ausarbeitungen des Gremiums herangezogen; ggf. wird die fertiggestellte wissenschaftliche Begründung vor ihrer Veröffentlichung der jeweiligen klinischen Fachgesellschaft zur Kommentierung vorgelegt.
Da es sich beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ um ein „in-ternes“ Beratungsgremium handelt, erfolgen die Veröffentlichung von Arbeitsergebnissen und die Beantwortung von Anfragen stets durch das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Dies ist auch ein Schutz vor Versuchen, den Beirat oder einzelne Mitglieder als „Obergutachter“ oder „Schiedsrichter“ für die Beurteilung von ein-zelnen Erkrankungsfällen zu missbrauchen und von der eigentlichen Kernaufgabe loszulösen.
Mit der Veröffentlichung einer Wissenschaftlichen Empfehlung oder Stellungnah-me des Ärztlichen Sachverständigenbeirats konstatiert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dass es die Ausführungen als den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zum jeweiligen Thema aner-kennt. Für die Praxis der Rechtsanwendung erhält die Veröffentlichung einer Wissenschaftlichen Begründung bereits vor der Auf-nahme des Krankheitsbildes in die amtliche Liste der Berufskrankheiten dadurch ein besonderes Gewicht. Zu beachten ist jedoch, dass sich die wissenschaftliche Erkenntnislage ständig weiterentwickelt und der Begründungstext den Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wiedergibt.
Die Mitglieder des Ärztlichen Sachverständigenbeirats sind ausschließlich der wis-senschaftlichen Auswertung der Studienlage verpflichtet; sozioökonomische und politische Aspekte sind hierfür nicht maßgeblich. Derartige Aspekte können aber vom Bundesministerium und im Zuge der politischen Inkraftsetzung von der Bundesregierung und vom Bundesrat eingebracht werden und zu einer Modifikation der jeweiligen Berufskrankheit führen. Zur Verbesserung der Handhabbarkeit in der Rechtspraxis können dabei auch unscharfe oder heterogene Studienergebnisse durch eine Konvention auf wissenschaftlicher Daten-basis präzisiert werden. Ein Beispiel für eine solche Konvention ist die Ableitung des einheitlichen Dosisgrenzwerts von 100 Benzo-(a)pyren-Jahren für die BK Nr. 4113 obwohl die wissenschaftliche Datenlage zu unter-schiedlichen Werten für Raucher und Nicht-raucher geführt hätte. In früheren Jahrzehn-ten war Rauchen gesellschaftlich akzeptiert, eine Differenzierung zwischen Rauchern und Nichtrauchern daher sozialpolitisch nicht konsensfähig; dies könnte sich in Zukunft mit der zunehmenden gesellschaftlichen Ächtung des Rauchens ändern. Ein weiteres Beispiel ist die Festlegung auf ein additives Risikomodell für die synkanzerogene Wirkung bei der BK Nr. 4114 trotz epidemiologischer Hinweise auf ein überadditives Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasser-stoffen bei der Verursachung von Lungenkrebs.
Die wissenschaftliche Begründung einer neuen Berufskrankheit
- Maßgeblich für die Aufnahme eines Krankheitsbildes in die amtliche Liste der Berufskrankheiten (Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung) ist die Erfüllung der Definition gemäß § 9 Abs. 1 SGBVII. Demnach ist das Vorliegen hin-reichender Erkenntnisse der medizini-schen Wissenschaft zu zwei Kriterien zu prüfen:Die Verursachung einer Krankheit durch besondere Einwirkungen (ge-nerelle Geeignetheit)
- Das arbeitsbedingte Ausgesetztsein einer bestimmten Personengruppe in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung (Gruppentypik)
Dies erfordert vom Ärztlichen Sachverstän-digenbeirat ein zweistufiges Vorgehen. Da-bei kann es passieren, dass nur die erste Stufe erfüllt und eine generelle Geeignetheit einer Einwirkung zur Verursachung einer Krankheit festgestellt wird, diese jedoch wegen der unzureichenden Abgrenzung der betroffenen Personengruppe keine „Berufskrankheitenreife“ erlangt und deshalb nicht in die amtliche Liste aufgenommen werden kann. Beispiele sind die Verursachung von Lungenkrebs durch Dieselruß oder durch Mischstäube und durch Stäube ohne eigene „intrinsische“ Toxizität. Solche Einwirkungen sind auf der Basis epidemiologischer und tierexperimenteller Studien von maßgeblichen regelsetzenden Gremien wie die internationale Krebsforschungsbehörde der Weltgesundheitsorganisation (IARC) oder die Arbeitsstoffkommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (sog. MAK-Kommission) als eindeutig krebserzeugend beim Menschen festgestellt worden; auch der Pathomechanismus der Verursachung ist weitgehend aufgeklärt. Im Falle des Dieselruß sind jedoch die unterschiedlichen Technologien und Expositionsszenarien im zeitlichen Verlauf der letzten Jahrzehnte und im Falle der allgemeinen Staubwirkung die Schwierigkeit der Eingrenzung auf bestimmte erheblich höher gefährdete Personengruppen und die Abgrenzung von Staubbestandteilen mit spezifischer Toxizität (Asbest, Quarz, Schwermetalle) bislang nicht überwundene Hindernisse für die Feststellung der Gruppentypik und der Berufskrankheitenreife. Für die grundsätzliche Einstufung einer Einwir-kung als krebserzeugend für den Menschen sind weniger wissenschaftliche Hürden zu überwinden als für die präzise Eingrenzung der Personengruppe, die im Rahmen der Unternehmerhaftung zu entschädigen ist.
Im zweistufigen Verfahren haben die ver-schiedenen Erkenntnisquellen der medizinischen Wissenschaft eine unterschiedliche Bedeutung; insbesondere betrifft dies die Epidemiologie. Für die Feststellung der „ge-nerellen Geeignetheit“ sind alle Informationen prinzipiell gleichwertig. Auch bei Anwendung der Bradford-Hill-Kriterien als Grundlage der Kausalitätsprüfung reicht die statistisch-assoziative Zuordnung von Risikofaktoren und Erkrankungen nicht aus. Gleichermaßen wichtig ist die Klärung der Pathomechanismen der Verursachung, wozu unter anderem die Pathologie, Physiologie, Biomechanik, Biochemie, Molekularbiologie und Toxikologie sowie klinisch medizinische Erkenntnisse einen wesentlichen Beitrag lie-fern können. Einige Kritiker der Arbeit des Ärztlichen Sachverständigenbeirats engen ihre Argumentation auf ausschließlich epidemiologische Befunde ein, berücksichtigen jedoch nicht, dass die Feststellung der generellen Geeignetheit eine Gesamtbetrachtung der Evidenz aus den verschiedenen wissenschaftlichen Erkenntnisquellen erfordert.
Im Gegensatz zur ersten Stufe, in der die Epidemiologie eine „gleichrangige“ Erkennt-nisquelle neben anderen ist, hat sie für die zweite Stufe der Abgrenzung der betroffenen (zu entschädigenden) Personengruppe eine dominierende Bedeutung; denn nur mit ihr lässt sich der erheblich höhere Grad des Ausgesetztseins feststellen. Zwar wird mitunter argumentiert, dass „ausgesetzt“ sich auf die Exposition gegen einen Gefährdungsfaktor, also auf arbeitstechnische Aspekte, bezöge. Die Rechtsprechung hat jedoch klargestellt, dass sich die höhere Exposition der betrof-fenen Personengruppe auch in einem höheren Erkrankungsrisiko manifestieren muss. Häufig kann die epidemiologische Wissenschaft aus methodischen Gründen oder auf-grund einer unzureichenden Datenlage die Erwartungen nicht erfüllen, die von Seiten der Rechtsanwender (Gesetzliche Unfallversicherung, Gerichte) hinsichtlich der Ab-grenzung der zu entschädigenden Personen-gruppe ausgesprochen werden. Auf einige diesbezügliche Schwierigkeiten soll im fol-genden Abschnitt hingewiesen werden.
Häufige Probleme bei der Begründung neuer Berufskrankheiten
Möglichkeiten und Grenzen der Epidemiologie
In der medizinischen Forschung wird die Epidemiologie in erster Linie eingesetzt, um Zusammenhänge (Assoziationen) zwischen Einflussfaktoren und Erkrankungen aufzudecken. Daraus ergeben sich Arbeitshypothesen für die Erforschung des Wirkungs-mechanismus in experimentellen Arbeiten. Die Kenntnis des Mechanismus der Entstehung einer Krankheit ermöglicht schließlich die Entwicklung neuer Therapieprinzipien. Im Berufskrankheitenrecht wird dieses in der medizinischen Wissenschaft übliche Vorgehen umgekehrt: Auf der Basis von Erkenntnissen über den Wirkungsmechanismus (generelle Geeignetheit eines Faktors am Arbeitsplatz, eine bestimmte Krankheit zu verursachen) wird im zweiten Schritt die Epidemiologie eingesetzt, um die gefährdete Personengruppe von der Allgemeinbevölkerung abzugrenzen. Diese Umkehr der Erkenntnisfindung stellt hohe Anforderungen an die epidemiologische Methodik, die bei selteneren Krankheitsbildern an ihre Grenzen stößt. Als Beispiel ist die Verur-sachung von Blutkrebs (Leukämie) durch Benzol zu nennen. Leukämien sind um den Faktor 20 bis 50 seltener als die häufigen bösartigen Erkrankungen des Menschen wie Lungenkrebs, Prostatakrebs oder Brustkrebs. Bei der üblichen Größe von arbeitsmedizinischen Kohortenstudien ist der epidemiologische Zusammenhang zwischen einer beruflichen Benzolexposition und ein-zelnen Formen von Blutkrebs erst bei einer Vervierfachung des Risikos oder noch erheb-licheren Risikosteigerungen statistisch signifikant. Hinzu kommen Änderungen der Nomenklatur und Klassifikation verschiede-ner Krankheitsentitäten über die Jahrzehnte, die eine Vergleichbarkeit älterer und neuerer Studien erschweren. Allein die wiederholte Auswertung der Pliofilm-Kohorten-studie, einer „Kronzeugen-Studie“ für die blutkrebserzeugende Wirkung von Benzol, ergab eine unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen Krankheitsentitäten; während ältere Auswertungen hauptsächlich die Verursachung von akuten myeloischen Leu-kämien zeigten, gibt es neuere Auswertun-gen, die eine größere Bedeutung des myelo-dysplastischen Syndroms (MDS) und der lymphatischen Krebserkrankungen nahelegen; wohlgemerkt auf der Datengrundlage der selben Mortalitäts-Kohortenstudie. Bei einer toxikologisch und molekularbiologisch unstrittig unspezifischen kanzerogenen Wir-kung von Benzol auf das blutbildende und lymphatische System war es vor diesem Hintergrund erforderlich, eine prinzipielle Ent-schädigungsfähigkeit für fast alle malignen hämatologischen Erkrankungen festzustellen und für die Handhabbarkeit der diesbezüglichen Berufskrankheit Nr. 1318 eine Konvention auf der Basis der aktuell bestverfügbaren wissenschaftlichen Datenlage zu finden.
Auch die relativ häufige Veröffentlichung von Mortalitätsstudien und die Seltenheit inzidenzbasierter Kohortenstudien führt zu Problemen in der Begründung von Berufskrankheiten, da nicht nur der Todesfall, son-dern insbesondere die Erkrankung an sich versichert ist. Die geringere Letalität einiger arbeitsbedingter Krebserkrankungen kann zu einer erheblichen Unterschätzung des Erkrankungsrisikos auf der Grundlage von Mortalitätsstudien führen.
Oft stellt die in der Definition der Berufs-krankheit genannte Bezugsgröße der „übrigen Bevölkerung“, mit der die durch die Arbeit gefährdete Personengruppe verglichen werden soll, ein Problem dar. Exponierte Personen werden in manchen epidemiologischen Studien mit Nichtexponierten (z. B. Raucher vs. Nieraucher), in anderen wiederum mit der Allgemeinbevölkerung verglichen, wobei letztere auch exponierte einschließlich beruflich belastete Personen einschließt.
Seidler hat darauf hingewiesen, dass die Anwendung des „Verdopplungsrisikos“ als Faustregel für die Feststellung einer Berufskrankheit zu einer Unterschätzung der beruflichen Verursachungswahrscheinlichkeit bei chronischen Erkrankungen mit deutlichem Altersgang (z. B. Lungenkrebs, Gonarthrose) führt. Die berufliche Belastung bewirke nicht nur ein Auftreten zusätzlicher Erkrankungsfälle bei Personen, die ohne arbeitsbedingter Belastung nicht erkrankt wären, sondern auch zu einer Vorverlagerung des Krankheitsbeginns bei Personen, die ohnehin (schicksalhaft) erkrankt wären. Er fordert daher eine sozialpolitische Konvention, den beruflichen Ursachenzusammenhang für solche Erkrankungen bereits bei (festzulegenden) relativen Erkrankungsrisiken unter 2 zu bejahen (Seidler 2014).
Hierzu ist anzumerken, dass die unreflektierte Anwendung des „Verdopplungs-risikos“ in der Tat zu einer Unterschätzung der gesundheitsschädlichen, der Unterneh-merhaftung unterliegenden, Wirkung von arbeitsbedingten Risikofaktoren führen kann. Zu beachten ist allerdings, dass das „Verdopplungsrisiko“ ein Kriterium ist, das aus-schließlich zur Festlegung von Dosisgrenzwerten bei neuen Berufskrankheiten, also zur Abgrenzung der „Gruppentypik“ Anwendung finden sollte. Im Einzelfall ist das „Verdopplungsrisiko“ jedoch nur für Fälle nach § 9 Abs. 2 SGBVII relevant, da hierfür die gleichen Kriterien gelten wie für die Ein-führung einer neuen Berufskrankheit. Bei bereits bestehenden Berufskrankheiten ge-nügt jedoch nach höchstrichterlicher Recht-sprechung des Bundessozialgerichts die Feststellung einer „wesentlichen Teilursäch-lichkeit“, die auch unterhalb des „Verdopplungsrisikos“ liegen kann, sofern in der Legaldefinition der Berufskrankheit kein verbindlicher Dosisgrenzwert angegeben ist.
Weiterhin geht Seidler davon aus, dass in der Zukunft aufgrund der abnehmenden beruflichen Expositionen auch ein deutlicher Rückgang der gefahrstoffbezogenen Berufskrankheiten zu erwarten sei. Es ließen sich keine beruflichen Expositionen mehr finden, die die Verdopplungsdosis überschrei-ten (Seidler 2014). In der Tat wird es hier-durch zunehmend schwieriger, die Gruppentypik auf der Grundlage arbeitsepidemiologischer Studien festzustellen. Die aufgrund hoher Expositionen oder schlechter Arbeitshygiene hochgefährdete Personengruppe wird in der Gesamtpopulation der Personen mit ähnlicher Tätigkeit einen im-mer kleineren Anteil annehmen. Dieser „Ver-wässerungseffekt“ ist insbesondere in den bei Epidemiologen beliebten Metaanalysen zu befürchten. Diesbezüglich bedarf es einer methodischen Weiterentwicklung der Arbeitsepidemiologie zur verbesserten Einzelfall- und Clusteranalyse. Es gibt aber auch gegenläufige Trends. Die Abnahme des Tabakkonsums könnte zu einer Abnahme des Erkrankungsrisikos für verschiedene chronische Atemwegserkrankungen und Krebserkrankungen in der Allgemeinbevölkerung, also in der Bezugspopulation des Berufskrankheitenrechts, führen. Diese Entwicklungen könnten eine Überprüfung bestehender Dosisgrenzwerte erforderlich machen.
Weitere Schwierigkeiten des bisherigen Vorgehens bei der wissenschaftlichen Begründung einer Berufskrankheit betreffen die langen Latenzzeiten von Krebserkrankungen, die schlechte Abgrenzbarkeit beruflicher und außerberuflicher Einflüsse bei Volkskrankheiten (z. B. Bandscheibenschäden) sowie die in Deutschland im Vergleich zu einigen anderen europäischen (z. B. skan-dinavischen) Staaten erhebliche Behinde-rung epidemiologischer Forschung durch rechtliche Einschränkungen (Datenschutz).
Organotropie
Für die Einstufung eines Stoffes als krebserzeugend für den Menschen ist es unwe-sentlich, an welchen Organen sich die kanzerogene Wirkung manifestiert. Im Berufskrankheitensystem kommt es aber auf die Beurteilung einer konkreten Organerkrankung des Versicherten an. Einige Berufskrankheitentatbestände, die aus früheren Jahrzehnten stammen, sind diesbezüglich unpräzise formuliert, z. B. die BK Nr. 1302 „Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe“. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ hat sich daher die Aufgabe gestellt, neben der Prüfung neuer Berufskrankheiten, einige ältere „unbestimmte“ Berufskrankheiten-Tatbestände in wissenschaftlichen Empfehlungen zu präzisieren. So wurden kürzlich für die Berufskrankheit Nr. 1104 „Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen“ die Krankheitsbilder (gutartige und bösartige) und Organmanifestationen (Lunge, Niere, Nase) differenziert aufgearbeitet (BMAS 2014).
Abgrenzung beruflicher und außer-beruflicher Gefährdungen
Ein Klassiker ist diesbezüglich der Tabakkonsum als konkurrierender außerberuflicher Risikofaktor für nichtmaligne Erkrankungen der Lunge und Atemwege und für diverse maligne Erkrankungen. Für die wissenschaftliche Begründung von Berufskrankheiten kann dieser Lebensstilfaktor eine erhebliche Bedeutung haben. Eine allgemeine Staubbelastung ist ein wissenschaftlich erwiesener Risikofaktor für die Entwicklung einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). In der Allgemeinbevölkerung dominiert der Tabakkonsum als Ursachenfaktor für die „Volkskrankheit“ COPD; schätzungsweise 80 bis 90 % der Erkrankungsfälle sind tabakbedingt. Neben einigen anderen Ursachen (1-Antitrypsinmangel, Mukoviszidose, allergisches Asthma) wird die berufliche Gefährdung durch Staubinhalation von der dominieren-den Bedeutung des Tabakkonsums überlagert, so dass eine Abgrenzung der „be-stimmten Personengruppe“ gemäß Berufskrankheitenrecht auf der Basis arbeitsepidemiologischer Studien nur für Steinkohle-Bergarbeiter unter Tage möglich war (BK Nr. 4111), da diese Berufsgruppe wegen der Explosionsgefahr einem Rauchverbot am Arbeitsplatz nicht nur unterliegt sondern dieses auch befolgt; es handelt sich also um eine Gruppe von Nicht- oder Geringrauchern.
Ähnlich waren die Schwierigkeiten bei der Begründung der neuen Berufskrankheit Nr. 5103 „Plattenepithelkarzinome oder multiple aktinische Keratosen der Haut durch natürliche UV-Strahlung“ wegen des hohen Anteils der außerberuflichen UV-Strahlung nicht nur im Arbeitsalter sondern auch während der Kindheit und Jugend. Zudem unterliegen bestimmte Zeiten in der Kindheit (Schulzeit) dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Es musste daher eine praktikable und dennoch wissenschaft-lich einwandfreie Lösung für die Feststellung der arbeitstechnischen Voraussetzungen ge-funden werden.
Die schwierige Abgrenzung arbeitsbe-dingter und außerberuflicher Gefährdungen hat bislang auch die häufig geforderte Aufnahme psychischer Erkrankungen in die Liste der Berufskrankheiten verhindert. Nur selten ist die Arbeitstätigkeit der einzige Belastungsfaktor für die Entwicklung von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Meistens liegt eine Kombina-tion außerberuflicher Belastungen (Ehe- und Beziehungskrisen, finanzielle Probleme etc.) mit beruflichen Einflussfaktoren (Arbeits-überlastung, ungünstige Interaktion mit Vor-gesetzten und Kollegen etc.) vor. Nach der bis-herigen epidemiologischen Datenlage lassen sich bestimmte besonders gefährdende Tätigkeiten oder Arbeitsbereiche nicht herausarbeiten (Gruppentypik!), auch die individuelle Reaktion auf komplexe Belastungen ist äußerst unterschiedlich. Diesbezüglich besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.
Verschleißkrankheiten
Manche Krankheitsbilder sind nicht so sehr von einer Zunahme der Erkrankungshäufigkeit betroffen (wie z. B. die Krebserkrankungen) sondern von einer Vorverla-gerung des Krankheitsverlaufs (sog. „Linksverschiebung“ im Altersgang). Dies ist typisch für manche Leiden auf orthopädischem Fachgebiet, z. B. Gelenkarthrosen. Gemäß der Legaldefinition ist nicht nur die Verursachung sondern auch die Verschlimmerung von Erkrankungen von der Entschädigungsfähigkeit erfasst. Zwar kann eine Altersadjustierung in der epidemiologischen Auswertung zur Feststellung der „generellen Geeignetheit“ nützlich sein, die Abgrenzung der Gruppentypik jedoch schwierig sein. Bezüglich dieser Problematik ist auf eine kürzlich erschienene Veröffentlichung von Seidler (2014) hinzuweisen.
Kombinierte Einwirkungen
Das System der Berufskrankheiten ist bislang abgesehen von wenigen Ausnahmen (BK Nr. 1317, Nr. 4114) monokausal angelegt. Gerade die im Hinblick auf die Prävention besonders problematischen Arbeitsplätze und -tätigkeiten sind durch multiple gesundheitsschädliche Einwirkungen geprägt. Eine zufriedenstellende Regelung dieser unzureichenden Berücksichtigung kom-plexer Einwirkungen bedarf nicht nur medizinisch-wissenschaftlicher sondern auch juristischer Weiterentwicklungen, die am besten interdisziplinär zu bewältigen sind. Auf eine tiefere Besprechung der Synkanzero-genese und anderer kombinierter Einwirkungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf die diesbezügliche Literatur verwiesen (HVBG 2006; BMAS 2007).
Literatur
BMAS, Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit „Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen Kohlenwasserstoffen“. GMbl 2007; 58: 474–495.
BMAS, Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 1104 der Anlage 1 zur Berufs-krankheiten-Verordnung „Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen“. ASU 2014; 49: 771–778.
Giesen T: Die rechtliche Sonderstellung der Berufs-krankheiten – Teil I: Die Geschichte der Berufskrankheiten (1). Zbl Arbeitsmed 2008a; 58: 227–236.
Giesen T: Die rechtliche Sonderstellung der Berufs-krankheiten – Teil II: Wie entsteht aus einer Krankheit eine Berufskrankheit? (2) – Die wissenschaftliche Begründung (3). Zbl Arbeitsmed 2008b; 58: 227–236.
HVBG: Synkanzerogenese. BK-Report 2/2006. St. Augustin: HVBG, 2006.
Seidler A: Ableitung von Grenzwerten auf der Grund-lage von epidemiologischen Studien. Zbl Arbeitsmed 2014; 64: 325–329.
Autor
Prof. Dr. med. Ernst Hallier
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Universitätsmedizin Göttingen
Waldweg 37 – 37073 Göttingen