Carpal tunnel syndrome as an occupational disease: temporal relationship between exposure and onset of the disease
Objective: It is sometimes difficult to assess carpal tunnel syndrome (CTS) as an occupational disease (OD) due to the lack of clear statements in the scientific argumentation on the duration of exposure prior to the onset of CTS. We therefore conducted a review of the literature on the duration of exposure in the case of CTS. In addition, we analysed OD files on the duration of exposure for insured persons suspected of having CTS.
Methods: The literature search was conducted in the PubMed, Cinahl and Web of Science databases for the period from 2014 to 2019. Information on the duration of exposure was taken from the OD files of the Occupational Accident Insurance for Healthcare and Welfare Services (BGW) for the purpose of explorative data analysis.
Results: Nine studies were included in the review. The findings on the association between duration of exposure and CTS risk were inconsistent. In six studies, exposure periods of at least nine years were associated with an increased risk of CTS. Shorter exposure times were associated with an insignificant increase in CTS risk in only one study. In two studies, there was no association between duration of exposure and the development of CTS. In the BGW claims data, the median duration of exposure until the diagnosis of CTS was 24 years. Only a small number of insured persons (8 %) had a period of exposure of less than five years before the development of CTS.
Conclusion: No reliable conclusion can be drawn on the association between duration of exposure and CTS on the basis of the nine included studies. The duration of exposure in the claims data was mostly long. There were a few cases in which CTS developed after less than five years of exposure. There is no justification for rejecting CTS as an OD if the duration of exposure is long.
Keywords: carpal tunnel syndrome – occupational disease – latency period – accident insurance – claims data
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2020; 55: 312–318
Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit: Zeitliche Zusammenhänge zwischen Exposition und Auftreten der Erkrankung
Zielsetzung: Die Beurteilung des Karpaltunnelsyndroms (CTS) als Berufskrankheit (BK) bereitet mitunter Probleme, da in der wissenschaftlichen Begründung klare Aussagen zur typischen Expositionsdauer vor Auftreten des CTS fehlen. Daher wurde ein Literaturreview zur Expositionsdauer bei CTS durchgeführt. Ferner wurden BK-Akten zur Beschreibung der Expositionsdauer von Versicherten mit BK-Verdacht auf CTS ausgewertet.
Methoden: Die Literaturrecherche erfolgte in den Datenbanken PubMed, Cinahl und Web of Science für den Zeitraum von 2014 bis 2019. Aus den BK-Akten der Berufsgenossenschaft für Gesundheitswissenschaften und Wohlfahrtsdienst (BGW) wurden Angaben zur Expositionsdauer entnommen und explorativ ausgewertet.
Ergebnisse: Ins Review wurden neun Studien eingeschlossen. Die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Expositionsdauer und CTS-Risiko waren uneinheitlich. Expositionszeiten von mindestens 9 Jahren waren in sechs Studien mit einem höheren CTS-Risiko assoziiert. In nur einer Studie waren kürzere Expositionszeiten mit einem nicht signifikant erhöhten CTS-Risiko assoziiert. In zwei Studien fand sich kein Zusammenhang zwischen Expositionsdauer und Auftreten von CTS. Bei den Versicherten der BGW betrug die mediane Expositionszeit bis zur CTS-Diagnose 24 Jahre. Kürzere Expositionszeiten vor Auftreten des CTS von weniger als 5 Jahren hatten 8 % der Versicherten.
Schlussfolgerung: Auf Basis der neun eingeschlossenen Studien kann keine sichere Aussage zum Zusammenhang zwischen Expositionsdauer und CTS gemacht werden. Die Expositionsdauer in den BK-Fällen war überwiegend lang, in wenigen Fällen trat ein CTS auch nach weniger als fünf Expositionsjahren auf. Eine Ablehnung eines CTS als BK wegen einer langen Expositionszeit ist nicht gerechtfertigt.
Schlüsselwörter: Karpaltunnelsyndrom – Berufskrankheit – Latenzzeit – Unfallversicherung - Routinedaten
Einleitung
Das Karpaltunnelsyndrom (CTS) ist eine periphere Mononeuropathie, die durch eine Erhöhung des Gewebedrucks im Karpaltunnel hervorgerufen wird. Durch den Druck auf den Nervus medianus entstehen teilweise oder vollständige Verluste der motorischen, sensiblen oder autonomen Funktionen in Fingern, Hand und/oder Handgelenk mit möglicher Ausstrahlung in den Arm. Die klinische Symptomatik wird durch eine Volumenzunahme des Tunnelinhalts ausgelöst. Ursächlich für die Volumenvermehrung können beispielsweise Traumata, Handgelenksarthrosen verschiedener Ursache, tumoröse oder tumorähnliche Raumforderungen sein (Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie e.V., DGH, u. Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V., DGNC, 2012). Die Entwicklung eines berufsbedingten CTS wird durch repetitive Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, Tätigkeiten mit erhöhtem Kraftaufwand oder Vibrationsbelastung begünstigt (Bernard 1997). Die Prävalenz bei der arbeitenden Bevölkerung hängt von Studientyp, Population und Diagnosekriterien ab. Sie variiert zwischen 0,6 bis 61% (Hagberg et al. 1992; Hegmann et al. 2014). Seit dem 01.01.2015 ist die BK 2113 „Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel durch repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, durch erhöhten Kraftaufwand der Hände oder durch Hand-Arm-Schwingungen“ in die Berufskrankheitenverordnung (BKV) aufgenommen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, 2014). Grundlage für die Aufnahme ist die wissenschaftliche Begründung für die BK 2113 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2009 (BMAS 2009). In der Handlungsanleitung „Carpaltunnelsyndrom“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) werden arbeitstechnische Voraussetzungen genannt, die bei der Feststellung des beruflich bedingten CTS zutreffen müssen (DGUV 2016). Zusammenfassend sind dies repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände im Handgelenk, erhöhter Kraftaufwand der Hände (kraftvolles Greifen) oder Einwirkung von Hand-Arm-Schwingungen, beispielsweise durch handgehaltene vibrierende Maschinen. Das berufsbedingte Erkrankungsrisiko erhöht sich, wenn zwei oder mehrere Faktoren zusammen auftreten. Über die Expositionsdauer bis zum Auftreten der Erkrankung liegen in der Literatur unterschiedliche Angaben vor. In der wissenschaftlichen Begründung für die BK 2113 wird beschrieben, dass ein Kausalzusammenhang plausibel sei, wenn der Erkrankungsbeginn im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Exposition steht (BMAS 2009). Aufgrund dieser Darstellung kommt es in Feststellungsverfahren zur BK 2113 zu Unsicherheiten bei der Beurteilung eines Ursachenzusammenhangs zwischen Dauer der Exposition und Auftreten von CTS. Infolgedessen lehnen einzelne Sachverständige insbesondere dann einen Ursachenzusammenhang ab, wenn langjährig exponierte Beschäftigte betroffen sind. Kozak et al. (2015) beschreiben in einem Review, dass das Erkrankungsrisiko mit steigender Expositionszeit sinkt, jedoch aus den eingeschlossenen Studien nicht abgeleitet werden kann, dass eine längere Exposition gegen einen Ursachenzusammenhang spricht.
Zielstellung
In dieser Arbeit wird der zeitliche Zusammenhang zwischen Dauer der beruflichen Exposition und Auftreten eines CTS auf zwei verschiedenen Wegen untersucht:
Methode
Literaturrecherche
Eine Literaturrecherche erfolgte in den Datenbanken Pubmed und Cinahl für den Zeitraum 09/2014 bis 08/2019 und in der Datenbank Web of Science für den Zeitraum 2014 bis 2019 mit dem folgenden Suchstring: occupation* OR worker* OR occupational diseases [MH] OR occupational exposure [MH] OR occupational medicine [MH] OR occupational risk* [TW] OR occupational hazard [TW] OR occupational group* [TW] OR work-related OR working environment [TW] OR exposure [TW]) OR physical load [TW] OR risk factor* [TW] OR repetiti* [TW]) OR hand-arm vibration* [TW]) OR force [TW]. Dieser wurde mit der Verknüpfung AND mit folgendem Suchstring kombiniert: “carpal tunnel syndrome” [MH] OR “carpal tunnel syndrome” [All Fields] OR (“median nerve neuropathy” [TW] OR “median nerve entrapment [TW]” OR “nerve compression syndrome” [TW].
Abzüglich der Doppelungen ergab die Suche 660 Treffer (Pubmed: 277; Cinahl: 142; Web of Science: 472). Einschlusskriterien waren Beschäftigte als Studienpopulation, CTS als Outcome und das Vorliegen von Angaben zur Dauer der beruflichen Exposition. Ausgeschlossen wurden Studien zu Operations- und Untersuchungsmethoden im Zusammenhang mit CTS, zu Therapien von CTS, metabolisch oder posttraumatisch bedingtem CTS sowie Studien mit CTS als Begleiterkrankung, zum Beispiel von Diabetes mellitus. An Studiendesign und Sprache wurde keine Bedingung gestellt. Nach Sichtung der Titel und Abstracts verblieben 55 Artikel für die Volltextanalyse, von denen neun Artikel eingeschlossen wurden. Aus diesen wurden Angaben zu folgenden Merkmalen extrahiert: Studientyp, Durchführungsort, Studienzeitraum, Studienpopulation, Diagnostikmethode, Zeitpunkt der Untersuchung (bei Aufnahme in die Studie oder bei Auftreten von CTS-Symptomatik), CTS-Prävalenz sowie Angaben zur Dauer der Exposition (Anzahl Berufsjahre). Aufgrund der heterogenen Studiendesigns erfolgte die Zusammenfassung der Studienergebnisse qualitativ.
Auswertung von BK-Akten
Als Basis für die Datenerhebung dienten BK-Akten von ärztlich diagnostizierten CTS-Fällen, die zur Qualitätssicherung im Rahmen von BK-Feststellungsverfahren zwischen 2006 und 2017 beurteilt wurden. Folgende Daten wurden retrospektiv mittels eines Dokumentationsbogens erfasst: Geschlecht, Geburtsdatum, Beruf, Tätigkeitsbeginn, Beschwerdebeginn und Zeitpunkt der Diagnosestellung. Des Weiteren wurde dokumentiert, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung eines CTS als BK gegeben waren und ob im Rahmen der Qualitätssicherung eine Anerkennung als BK empfohlen wurde. Aus den vorliegenden Angaben wurden folgende Variablen berechnet: Alter bei CTS-Diagnose, berufliche Expositionszeit bis Beschwerdebeginn sowie bis CTS-Diagnose. Als Zielgröße wurde Expositionszeit bis CTS-Diagnose definiert. Die Berufe wurden zu 6 Gruppen zusammengefasst: Physiotherapeuten/Masseure1; Friseure/Kosmetikerinnen; zahnmedizinisches Personal; Reinigungs-/Küchenpersonal; Pflegekräfte/Betreuer sowie Sonstige, bestehend aus drei Handwerkern, die nicht in die Auswertung einbezogen wurden. Die statistische Auswertung erfolgte explorativ. Dargestellt wurden absolute und relative Häufigkeiten sowie als Streuungsmaße Median, 25%- und 75%-Quantil. Mit Box-Plots wurde die Verteilung der Expositionszeit bis CTS-Diagnose zwischen den Berufsgruppen verglichen. Signifikante Unterschiede hinsichtlich der Expositionszeit bis Diagnose wurden mittels Varianzanalyse für die Berufsgruppen und mittels t-Test für BK-Fälle mit und ohne Empfehlung für die Anerkennung geprüft.
Für den betrachteten Zeitraum lagen insgesamt 205 BK-Akten zur Auswertung vor. In die Analyse wurden 137 (67%) Fälle eingeschlossen, für die das Datum der CTS-Diagnose vorlag. Alle Daten wurden mit Excel 2016 zu einem Datensatz generiert und mit SPSS Version 22 ausgewertet.
Ergebnisse
Literaturrecherche
Unter den neun ins Review eingeschlossenen Studien befanden sich sechs Querschnittstudien, eine Fall-Kontroll-Studie, eine Längsschnittstudie und ein systematisches Review mit Meta-Analyse (➥ Tabelle 1). Die Studien unterschieden sich bei der Studienpopulation (nichtmedizinisches Personal, Laborpersonal, Friseure, Kassenpersonal, Bildschirmarbeiter, Beschäftigte im Gesundheitswesen und diverse handwerkliche Berufe), bei der Stichprobengröße (zwischen 78 und 4964) und bei den Methoden zur Sicherung der CTS-Diagnose (ärztliche Untersuchung, Tinel-Zeichen und Phalen-Test, Elektromyographie und diverse neurologische Tests). In zwei Studien wurden ausschließlich Männer untersucht, in drei Studien ausschließlich Frauen und in den übrigen gemischte Studienkollektive.
Den Studien lagen unterschiedliche Fragestellungen zugrunde: In sieben von neun Studien wurde der Zusammenhang zwischen beruflich bedingten ergonomischen Belastungen wie repetitive Tätigkeiten der oberen Extremität oder Hand-Arm-Schwingungen und der Häufigkeit von CTS untersucht (Chiang et al. 2017; Demiryurek u. Aksoy Gundogdu 2018; El-Helaly et al. 2017; Fan et al. 2015; Gillibrand et al. 2016; Riccò et al. 2016; Xu et al. 2017). Die jährliche Inzidenz von CTS wurde in einer Kohorte von weiblichem Kassenpersonal über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren untersucht (Meroni et al. 2017). Eine Metaanalyse wurde zu der Fragestellung durchgeführt, ob Tätigkeiten an Computer- oder Schreibmaschinentastatur mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines CTS assoziiert sind (Shiri u. Falah-Hassani 2015). Die CTS-Prävalenz in den Studienkollektiven variierte stark je nach diagnostischer Untersuchungsmethode. In Studien, in denen die CTS-Diagnose mittels neurologischer Tests vorgenommen wurde, lag die Prävalenz zwischen 7,6 und 74,3 Prozent. Die Angaben zur Expositionszeit basierten auf der Anzahl der Berufsjahre in der aktuellen Tätigkeit und waren in sieben der neun Studien auf den Zeitpunkt der Diagnostik im Rahmen der Studie bezogen und in zwei Studien auf den Zeitpunkt des Beschwerdebeginns (Demiryurek u. Aksoy Gundogdu 2018; Gillibrand et al. 2016).
Die Studienergebnisse zum Zusammenhang zwischen Expositionszeit und Auftreten eines CTS sind uneinheitlich. Als Expositionszeit bis CTS wurden Zeiträume von weniger als einem Jahr und mehr als 30 Jahren berichtet. Bei einer Expositionszeit von weniger als einem Jahr zeigte sich ein um 15 Prozent erhöhtes Risiko für ein CTS (Fan et al. 2015). Nach neun Jahren beruflicher Exposition war das Risiko für ein CTS in einer Studie erhöht, allerdings war dieser Zusammenhang statistisch nicht signifikant (Chiang et al. 2017). In drei Studien hatten Fälle mit einem CTS signifikant längere Expositionszeiten (mindestens 15 Jahre) als Fälle ohne CTS (Demiryurek u. Aksoy Gundogdu 2018; El-Helaly et al. 2017; Riccò et al. 2016). In einer Fall-Kontroll-Studie zeigte sich für die inzidenten Fälle, die bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge aufgrund von CTS-Symptomatik identifiziert worden waren, dass das Risiko für ein CTS nach mehr als 30 Jahren Exposition erhöht war, allerdings statistisch nicht signifikant (Gillibrand et al. 2016). In einer metaanalytischen Auswertung über vier Studien wurde für längere Expositionszeiten (über drei bis vier Jahre) gegenüber kürzeren Expositionszeiten (unter vier bzw. drei Jahren) ein erhöhtes Risiko ermittelt (Shiri u. Falah-Hassani 2015). In zwei Studien (darunter die Längsschnittstudie) fand sich kein Zusammenhang zwischen Expositionszeit und CTS-Auftreten (Meroni et al. 2017; Xu et al. 2017).
Auswertung BK-Akten
Die Versicherten der begutachteten BK-Akten waren überwiegend weiblich und bei Diagnose im Median 50 Jahre alt (➥ Tabelle 2). Die Beschwerden traten im Median nach 21 Jahren beruflicher Exposition auf. Zwischen Beschwerdebeginn und CTS-Diagnose lag bei
50 Prozent der Versicherten ein Jahr (➥ Abb. 1). Zeiträume von zehn und mehr Jahren zwischen Beschwerdebeginn und CTS-Diagnose hatten zehn Fälle.
Die mediane Expositionszeit bis zum Zeitpunkt der CTS-Diagnose betrug 24 Jahre (s. Tabelle 2). Bei elf Versicherten (8 %) lag die Expositionszeit bis zur CTS-Diagnose bei weniger als fünf Jahren. In den beiden Berufsgruppen Pfleger/Betreuer und Reinigungs-/Küchenpersonal war die Expositionszeit bis zur CTS-Diagnose mit durchschnittlich 17 bis 18 Jahren statistisch signifikant kürzer als bei Friseuren/Kosmetikerinnen und zahnärztlichem Personal (26 bzw. 27 Jahre) (p = 0,016; ➥ Abb. 2). Die Expositionszeit von Physiotherapeuten und Masseuren lag mit 22,6 Jahren dazwischen. Frauen und Männer unterschieden sich nicht hinsichtlich der Expositionszeit bis zur CTS-Diagnose.
Die Empfehlung zur Anerkennung des BK-Verdachts wurde bei 66,4 Prozent der BK-Verfahren ausgesprochen (n = 91) (s. Tabelle 2). Die mediane Expositionszeit unterschied sich nicht zwischen Fällen mit und ohne BK-Empfehlung (25 bzw. 23 Jahre; p = 0,342) (keine Tabelle).
Diskussion
Das vorliegende Review verfolgte das Ziel, aktuelle Studien mit Angaben zu Expositionszeiten bis zum Auftreten eines CTS zusammenzufassen sowie die Expositionszeiten bis zum Auftreten einer CTS-Diagnose von BGW-Versicherten mit Verdachtsanzeige auf eine BK 2113 auszuwerten. Die neun ins Review eingeschlossenen Studien waren sehr heterogen hinsichtlich Studiendesign und Fragestellung. Angaben zur Anzahl der Berufsjahre wurden zwar in allen Studien erfasst, jedoch wurden diese eher zur Stichprobenbeschreibung verwendet als dass sie Teil der Forschungsfrage waren und in Bezug auf Beschwerdebeginn oder Diagnosezeitpunkt untersucht wurden. Auf Basis dieser Studien kann keine Aussage zum Zusammenhang zwischen Expositionsdauer und Auftreten eines CTS gemacht werden. Aus drei Studien liegen Hinweise vor, dass das Risiko für ein CTS nach längerer Expositionszeit zunimmt (El-Helaly et al. 2017; Gillibrand et al. 2016; Shiri u. Falah-Hassani 2015), wobei diese Assoziation in zwei der drei Studien statistisch signifikant war. Hierzu passt das Ergebnis der Auswertung der BK-Akten von CTS-Verdachtsanzeigen, dass das CTS bei 50 Prozent der Versicherten nach 24 und mehr Jahren beruflicher Exposition aufgetreten war und nur bei 8 Prozent innerhalb von weniger als fünf Jahren.
Der Zeitpunkt der CTS-Diagnose ist für das Feststellungsverfahren bei BK-Verdachtsanzeigen relevant, für die hier vorliegende Fragestellung wäre die Betrachtung des Zeitpunkts, zu dem die Beschwerden erstmalig auftraten, sinnvoll. Allerdings hat die Auswertung der BK-Akten gezeigt, dass für 50 Prozent der Versicherten nur ein Jahr zwischen Beginn der Beschwerden und Diagnosestellung lag und dass dieser Zeitraum nur bei wenigen Versicherten mehrere Jahre betrug. Auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen Beginn der Beschwerden und CTS-Diagnose wird in keiner Studie eingegangen.
Eine gepoolte Analyse aus sechs prospektiven Studien, die vor dem Zeitraum unseres Reviews durchgeführt wurde, hatte aufgezeigt, dass das Inzidenzrisiko für Beschäftigte mit weniger als 3,5 Jahren beruflicher Exposition signifikant erhöht war gegenüber Beschäftigten mit längerer Exposition (HR: 3,08; 95%-KI: 1,6–6,1; Harris-Adamson et al. 2013). Bei Veränderung des Grenzwerts von 3,5 auf 5 bzw. 7 Jahre verschwand dieser Effekt (Harris-Adamson et al. 2015).
In der wissenschaftlichen Begründung wird angeführt, dass das CTS-Risiko am höchsten ist, „wenn die Exposition weniger als
12 Monate betragen hatte“ (BMAS 2009). Im darauf folgenden Satz wird ein plausibler Kausalzusammenhang angenommen, wenn „der Erkrankungsbeginn in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Exposition steht“. Dabei wird nicht eindeutig definiert, welcher Zeitraum unter einem „engen zeitlichen Zusammenhang“ verstanden wird. Ferner ist nicht ganz klar, ob bei der Überlegung zum zeitlichen Zusammenhang der Beginn oder das Ende der Exposition gemeint ist. Insgesamt lässt sich die These, dass kurze Expositionszeiten bis zum Auftreten eines CTS eher für und lange eher gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen, auf Basis der in unser Review einbezogenen Studien nicht bestätigen.
Für die auf Basis der BK-Akten identifizierten Unterschiede zwischen Berufsgruppen hinsichtlich der Expositionszeit bis zur CTS-Diagnose wurden keine als Vergleich geeigneten Studien gefunden. Daher kann nicht entschieden werden, ob diese Unterschiede zufällig beobachtet wurden oder durch Unterschiede bei der Exposition begründet sind.
Die vorliegende Auswertung weist verschiedene Limitationen auf. Es konnten ausschließlich Fälle ausgewertet werden, bei denen die BK-Sachbearbeitung der BGW eine arbeitsmedizinische Expertise im Rahmen der BGW-internen Qualitätssicherung in CTS-BK-Verfahren angefordert hatte. Dies könnte zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Fehlerhafte Angaben seitens der betroffenen Versicherten zur Expositionsdauer können nicht ausgeschlossen werden und könnten, wie von verschiedenen Autoren berichtet wird, zur Überschätzung geführt haben (Giersiepen et al. 2000; Palmer et al. 2000; Viikari-Juntura et al. 1996). Angaben zu Confoundern wurden den BK-Akten nicht entnommen und konnten somit bei der Auswertung nicht berücksichtigt werden.
Schlussfolgerung
Die Untersuchung zeigt, dass auf Basis der aktuellen Studien zur Häufigkeit von CTS eine empirisch begründete Aussage zum zeitlichen Zusammenhang zwischen Expositionsdauer und CTS-Auftreten nicht möglich ist. Insbesondere scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, eine langjährige Exposition als Indiz gegen eine berufliche Verursachung des CTS anzusehen. Angaben zur Latenz zwischen Expositionsende und CTS-Diagnose wurden nicht gefunden. Für das zukünftige BK-Anerkennungsverfahren wäre es hilfreich, im Rahmen einer Expertenkonvention zu klären, wie unter versicherungsrechtlichen Gesichtspunkten die Zeitdauer zwischen Ende der Exposition und Auftreten von CTS sein darf.
Interessenkonflikt: Die Autorinnen und Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
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