Gesundheit ist ein existentielles Gut. Zu deren Erhaltung, Förderung und Wieder-herstellung bedarf jeder Einzelne Unter-stützung bei der Wahrnehmung von Eigen-verantwortung innerhalb eines leistungsfähigen Gesundheitssystems, das auf solidarischer Basis organisiert ist. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der allgemeinen demo-grafischen Entwicklung in Europa, dem da-mit einhergehenden spezifischen Alterungs-prozess der Bevölkerung in Deutschland und gleichzeitiger Zunahme chronischer Erkran-kungen schon in der jüngeren Bevölkerung, erhalten Prävention und Gesundheitsförderung sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die Gesellschaft im Gesamten eine zunehmend wichtigere Bedeutung. Die öffentliche Diskussion zur Gestaltung und Verabschiedung eines „Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“, kurz Präventionsgesetz, hat deutlich gemacht: Es besteht ein breit getragener Konsens darüber, dass die Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung nicht nur für die Lebensqualität, sondern auch zur ökonomischen Stabilisierung un-serer Gesellschaft und unseres Gesundheits-wesens unverzichtbar ist. Hierzu bedarf es einer an bestehende Settingansätze angepassten Systematik von Prävention und Ge-sundheitsförderung, die sowohl die Verantwortung des einzelnen Menschen als auch die seiner Lebens- und Arbeitswelt – also ein Zusammenspiel zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention – fördert und auch fordert.
Die Lebens- und Arbeitswelt in den Betrieben und den Unternehmen sowie bei den öffentlichen Arbeitgebern stellt in unserer Gesellschaft das größte Präventionssetting sowohl für Maßnahmen im Rahmen der Verhaltens- als auch der Verhältnisprävention dar. Schon heute sind Arbeitsmediziner und Betriebsärzte im Rahmen der gesetzlich verankerten arbeitsmedizinischen Vorsorge sowie des betrieblichen Gesundheitsmanagements in der Lage, fast 43 Millionen arbeitende Menschen anzusprechen und für präventiv-medizinische Maßnahmen zu sensibilisieren oder gar zu gewinnen. Allein schon vor diesem Hintergrund erwächst den ca. 12 500 Ärztinnen und Ärzten1 mit arbeitsmedizinischer oder betriebs-ärztlicher Fachkunde in unserem Land die Aufgabe, ihre Rolle als Lotsen und neutrale Berater zwischen präventiver Gesundheits-förderung, ambulanter Versorgung, arbeits-medizinischer Vorsorge und berufsfördernder Rehabilitation einzunehmen, wie diese Bereiche in den entsprechenden Gesetzbüchern (SGBV, VII, IX) der Sozialgesetzgebung und den damit verbundenen Verordnungen verbrieft sind.
Im Mittelpunkt stehen dabei der Erhalt und die Förderung der physischen und psychischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit des arbeitenden Menschen, die Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsbedingungen, die Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Begutachtung arbeits- und umweltbedingter Risikofaktoren, Erkrankungen und Berufskrankheiten, die Verhütung arbeits-bedingter Gesundheitsgefährdungen, einschließlich individueller und betrieblicher Gesundheitsberatung, die Vermeidung von Erschwernissen und Unfallgefahren sowie die berufsfördernde Rehabilitation. Die Rolle von Arbeitsmedizinern und Betriebsärzten ist es, sowohl auf gesundheitsgerechte, salutogene Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzuwirken als auch die Beschäftigten in den Unternehmen zu befähigen, die individuelle Kontrolle über ihre Gesundheit zu erhöhen und dadurch ihre Gesundheit aktiv zu fördern.
Die Arbeitsmedizin in Wissenschaft und Praxis ist darüber hinaus eine integrierende Schnittstelle zwischen präventiver Gesundheitsförderung, ambulanter Versorgung und berufsfördernder Rehabilitation, die für alle an Prävention, Versorgung und Wiedereingliederung beteiligten Gesundheitsexperten eine koordinierende Plattform bietet. Zum Stand und Entwicklungsbedarf der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförde-rung in Deutschland stellt die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umwelt-medizin (DGAUM) folgende Thesen zur Diskussion2:
- These 1: Die Prävention muss zu einer tragenden Säule im Gesundheitssystem werden.
- These 2: Es bedarf einer Präventionsstrategie und Präventionskultur, die auch KMU erreicht.
- These 3: Arbeitsmediziner kennen den Arbeitnehmer mit seinen Erkrankungen und seinen Gesundheitsrisiken und die damit interagierenden Arbeitsbedingungen.
- These 4: Arbeitsmediziner und Betriebs-ärzte können 43 Millionen Menschen, die im Vorfeld einer Erkrankung nur selten den Arzt aufsuchen, für die Prävention und Gesundheitsförderung gewinnen.
- These 5: Ein betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ist wichtige Aufgabe einer Arbeitsmedizin 4.0.
- These 6: Effiziente gesundheitsfördernde Maßnahmen im Rahmen eines BGM können nur mit fundierten Kenntnissen über Gesundheit und Krankheit initiiert werden. Damit ist der Arbeitsmediziner und Betriebsarzt ein unverzichtbarer Partner beim BGM.
- These 7: Betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsförderung ist nicht nur inhaltlich, sondern auch formal (ASiG, ASchG, WHO, Gesetzliche Sozialversicherungen) eng mit der Arbeitsmedizin verzahnt.
- These 8: Ein effizientes BGM hat die Integration aller betrieblichen Maßnahmen zur Voraussetzung, die auf Gesundheitsschutz, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung abzielen.
- These 9: Durch das Präventionsgesetz werden die Sozialversicherungen zu wichtigen Akteuren im BGM. Mit ihren Erfahrungen im Arbeitsschutz und Kenntnissen zur evidenzbasierten Prävention stehen diesen Akteuren dabei Arbeitsmediziner und Betriebsärzte als kompetente Partner zu Seite.
- These 10: Eine effiziente Arbeitsmedi-zin an den zahlreichen Schnittstellen (Betrieb, ambulante und stationäre Versorgung, Rehabilitation und Wieder-eingliederung) benötigt wissenschaftliche Grundlagen, die an den Medizinischen Fakultäten erarbeitet werden müssen.
- These 11: Die arbeitsmedizinische Forschung zeichnet sich, ebenso wie jede andere fachspezifische Forschung in der Medizin, durch spezifische Kollektive, spezifische Fragestellungen und durch spezifische Methoden aus.
- These 12: Arbeitsmedizinisches Basiswissen ist Pflichtwissen eines jeden Arz-tes und muss im Medizinstudium vermittelt werden. Die Folgen nicht erkann-ter oder falsch postulierter Kausalzusammenhänge sind für den Einzelnen und die Gesellschaft mit Sicherheit immens, auch wenn hierzu bislang kaum systematische Untersuchungen vorlie-gen.
- These 13: Neben den Aufgaben in Wissenschaft, Forschung und Klienten-Betreuung ist auch die Politikberatung von großer Bedeutung, um die Ressourcen zielgerichtet einsetzen zu können.
- These 14: Die Erfüllung von präventiv-medizinischen Aufgaben setzt einen ebenso hohen Qualitätsstandard in den Methoden und der Qualitätssicherung wie in der klinischen Medizin voraus.
Neben diesen Thesen hat die DGAUM eben-falls Forderungen an die Akteure in Gesund-heits- und Sozialpolitik bzw. Forschungs- und Wissenschaftspolitik entwickelt. Diese sind wie die 14 Thesen zur Arbeitsmedizin 4.0. und deren inhaltliche Begründungen online abrufbar unter www.dgaum.de
Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) e. V. fordert zur breiten Diskussion der von ihr formulierten Thesen auf und setzt sich nachhaltig für die Umsetzung ihrer Forderungen in Politik, Gesellschaft und Ärzteschaft ein. Die Autoren und der Vorstand der DGAUM freuen sich schon heute auf eine breite Diskussion und Debatte.
Für den Vorstand der DGAUM
Prof. Dr. med. Hans Drexler
Prof. Dr. med. Stephan Letzel
Dr. phil. Thomas Nesseler
Dr. med. Joachim Stork
Dr. med. Andreas Tautz
Fußnoten
1 Aus Gründen der besseren Verständlichkeit und Sprachökonomie wird im Text für Frauen und Männer die männliche Form verwendet.
2 Eine frühere Version der Thesen ist erschienen unter: Letzel S, Stork J, Tautz A, fur den Vorstand der Deutschen Gesellschaft fur Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V.: 13 Thesen der Arbeitsmedizin zu Stand und Entwicklungsbedarf von be-trieblicher Pravention und Gesundheitsforderung in Deutsch-land. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2007; 42: 298–300.
DGAUM-Dialogforum: Update pulmonale Berufs-krankheiten 2015
Das nächstes DGAUM-Dialogforum zum Thema „Update pulmonale Berufskrankheiten 2015“ wird am 23./24.10.2015 in Aachen stattfinden. In einer Zeit, in der das zur Verfügung stehende Wissen sich innerhalb kürzester Zeit vervielfacht, gehört eine qualitätsorientierte Fortbildung zum A und O, auch und gerade in der Arbeitsmedizin. Die DGAUM hat daher gemeinsam mit unserem Partner RG GmbH eine neue Veranstaltungsreihe entwickelt, das „Dialogforum Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit. Eine Veranstaltungsreihe für Wissenschaft und Praxis“. Ziel der Dialogforen ist der wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Austausch zwischen Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit zum Wohle der arbeitenden Menschen. Das erste Dialogforum hat mit Erfolg Mitte September in Dresden stattgefunden. Das nächste wird unter dem Thema „Update pulmonale Berufskrankheiten 2015“ am Freitag und Samstag, den 23. und 24. Oktober 2015, in Aachen stattfinden. Wissenschaftlicher Leiter ist Professor Dr. med. Thomas Kraus, Direktor des Instituts für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin am Universitätsklinikum Aachen. Detailinformationen dazu online unter: