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Arztvorbehalt

Weniger Arbeitsmediziner – gleicher Arztvorbehalt

Fewer Occupational Physicians – Same Doctor‘s Reservation

Einleitung

In der Medizin – und somit auch in der Arbeitsmedizin – gilt der Arztvorbehalt. Das bedeutet, dass bestimmte Aufgaben beziehungsweise Maßnahmen ausschließlich von einem approbierten Arzt durchgeführt werden dürfen. Dies ist in verschiedenen Gesetzen normiert. Dennoch sind Verstöße gegen den Arztvorbehalt immer mehr an der Tagesordnung. Auch wenn diese Verstöße nur in seltenen Fällen zu schweren Folgen führen, stellen sie dennoch rechtswidrige Praktiken dar und verdienen daher Aufmerksamkeit nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus rechtlicher Sicht. Nachfolgend wird der Fokus auf haftungsrechtlichen Fragen gelegt, wobei versicherungsrechtliche Aspekte bewusst ausgeklammert werden.

Arbeitsmedizin und Delegation – aktuelle Entwicklungen

In der Arbeitsmedizin zeichnet sich in den letzten Jahren vermehrt die Tendenz zur Delegation von Tätigkeiten ab, die eigentlich dem Arztvorbehalt unterliegen. So delegieren Fachärzte für Arbeitsmedizin beziehungsweise Betriebsärzte immer häufiger arbeitsmedizinische Leistungen an nicht-ärztliches Personal, obwohl der Sinn der Delegation primär darin liegt, den Arzt von Routineaufgaben zu befreien (Wildgans 2011). Als Argumente für die Delegation werden zumeist Kostenersparnis, der Mangel an entsprechenden (Fach-)Ärzten sowie eine „konkludente“ Rückendeckung der Berufsgenossenschaft angeführt. Die (Fach-)Ärzte stünden jederzeit abrufbar in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Verfügung, wodurch eine ständige Überwachung gewährleistet sei. Nicht nur die Behandlung wird vermehrt durch nicht-ärztliches Personal vorgenommen, auch die Teilnahme an Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses nehmen beispielsweise medizinische Fachangestellte wahr, obwohl gemäß § 11 S. 2 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) explizit Betriebsärzte Teil des Ausschusses sein sollen. Zwar wird die genaue Anzahl der teilnehmenden Ärzte nicht konkretisiert, eine Delegation ist jedoch nicht vorgesehen. Diese Praxis der Delegation der Teilnahme an den Sitzungen wird vor allem auch von den arbeitsmedizinischen Zentren so gehandhabt, obwohl in der Bestellung der Betriebsarzt/Arbeitsmediziner vermerkt und mithin verantwortlich ist.

Bereits 2008 haben die Ärztekammer, 2012 und 2015 der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) und 2019 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Thema der Delegation adressiert. Wurde früher häufig die Unsicherheit der genauen Grenzen der Delegation von genuin ärztlichen Aufgaben als Argument angeführt, sind diese in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die vorgenannten Dokumente beziehungsweise Stellen konkretisiert worden. Der vorliegende Beitrag möchte vor allem auch einen Blick auf die rechtlichen Aspekte werfen.

Besonderheiten der Arbeitsmedizin

Die Besonderheit der Arbeitsmedizin im Vergleich zu anderen Fachgebieten liegt darin, dass sie zwei Ebenen aufweist. Neben dem klassischen Arzt-Probanden-Verhältnis (Arzt-Beschäftigten-Verhältnis) gibt es das Arzt-Betriebs-Verhältnis (BMAS 2019). Ferner muss der Betriebsarzt nicht nur die Menschen kennen, die er behandelt, sondern auch deren konkrete Arbeitsbedingungen beziehungsweise das Arbeitsumfeld miteinbeziehen und analysieren (BMAS 2019). Außerdem kommt die Delegation im Bereich der Arbeitsmedizin sehr häufig vor, was eine enorme praktische Relevanz impliziert (VDBW 2015).

(Berufs-)Rechtliche Aspekte zu Arztvorbehalt und persönlicher Leistungserbringungspflicht

Der Arztvorbehalt ist in verschiedenen Gesetzen festgeschrieben. Er bezieht sich auf „Tätigkeit[en], die aufgrund ihrer Schwierigkeit, Gefährlichkeit oder Unvorhersehbarkeit zwingend von einem Arzt erbracht werden“, dem so genannten „Kernbereich ärztlicher Tätigkeit“ (Oberlandesgericht [OLG] Dresden, Urt. v. 24.7.2008 – 4 U 1857/07). Dieser Kernbereich ist nicht definiert und muss in jedem Einzelfall bestimmt werden (Kaufhold 2021). Gemäß §§ 613 S. 1, 630b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat ein Dienstleistender den Dienst außerdem im Zweifel in Person zu leisten. Daraus lässt sich der Grundsatz der persönlichen Leistungserbringungspflicht ableiten. Auch § 19 Abs. 1 S. 1 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä), § 15 Abs. 1 S. 1 des Bundesmantelvertrags Ärzte (BMV-Ä) und § 2 Anlage 24 zum BMV-Ä rekurrieren auf die persönliche Leistungserbringung des Arztes. Spezialgesetzlich ist sie beispielsweise in § 13 Abs. 1 S. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) geregelt. Auch wenn diese Normen teilweise verschiedenen Bereichen entstammen, lässt sich doch ein einheitliches Bild erkennen. Den Grundsatz stellt die persönliche Leistungserbringung durch einen Arzt dar. Der Arzt muss die Aufgabe persönlich übernehmen, „wo die betreffende Tätigkeit gerade dem Arzt eigene Kenntnisse und Kunstfertigkeiten voraussetzt“ (Bundesgerichtshof [BGH], Urt. v. 24.6.1974 – VI ZR 72/74).

Delegation im Allgemeinen

Der Arztvorbehalt dient dem Schutz, Interesse und Wohl des Patienten/Probanden. Das heißt jedoch nicht, dass keinerlei Aufgaben an nicht-ärztliches Personal übertragen werden dürfen. Delegation stellt ein „erprobtes und häufig angewendetes Instrument der Aufgabenwahrnehmung“ dar (BMAS 2019); häufig ist auch von „vertikaler Arbeitsteilung“ die Rede (Deutsch u. Spickkoff 2014).

Grundsätzlich entscheidet jeder Arzt selbst, ob beziehungsweise an wen er eine Leistung delegieren möchte (vgl. § 4 Abs. 1 Anlage 24 zum BMV-Ä). Allgemein muss ein Betriebsarzt immer bereits persönlichen Kontakt zu dem jeweiligen Betrieb und dem konkreten Probanden gehabt haben, bevor er eine Leistung delegiert (BMAS 2019). Ob oder in welchem Maße ärztliche Tätigkeiten delegiert werden dürfen, hängt vor allem von den möglichen Gefahren für die Probanden ab (Interview mit Astrid Tomczak, s. „Weitere Infos“). Welche Anforderungen hierbei an den Arzt zu stellen sind, ist abhängig von der Qualifikation der Person, auf die die Aufgabe übertragen werden soll (§ 4 Abs. 2 S. 2 Anlage 24 BMÄ-V). Insoweit trifft den delegierenden Arzt sowohl eine Auswahl- als auch eine Anleitungs- und Überwachungsverpflichtung (§ 4 Abs. 2 S. 1 Anlage 24 BMÄ-V). Diese Pflichten sollten vom Arzt dokumentiert werden (Krull 2015). Die Überwachung muss nicht durchgängig und bis ins kleinste Detail stattfinden; abhängig von den Kenntnissen der unterstützenden Mitarbeitenden sind jedoch regelmäßige Überprüfungen vorzunehmen (VDBW 2015). Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass es keinen abschließenden und festgesetzten Katalog an Leistungen gibt, die delegiert werden dürfen. Auch die Rechtsprechung ist hier über allgemeine Rahmenfeststellungen noch nicht hinausgegangen (Kaufhold 2021). Lediglich der Kernbereich (s. oben) unterliegt dem strikten Arztvorbehalt. Dazu zählt unter anderem die Anamnese.

Delegation in der Arbeitsmedizin

Der Arztvorbehalt gilt sowohl für das Arzt-Betriebs-Verhältnis als auch für das Arzt-Beschäftigten-Verhältnis. Der Kernbereich der arbeitsmedizinischen beziehungsweise betriebsärztlichen Tätigkeit besteht darin, mögliche Gesundheitsgefährdungen zu erkennen und Arbeitgeber sowie Beschäftigte/Probanden dementsprechend zu betreuen (BMAS 2019). In Übereinstimmung mit dem oben Gesagten bedeutet Delegation im betriebsärztlichen Verhältnis „die Übertragung einzelner betriebsärztlicher Leistungen bei der Erfüllung betriebsärztlicher Aufgaben an nicht-ärztliche Personen“ (BMAS 2019). Nicht-ärztliche Personen können beispielsweise medizinische Fachangestellte
sein.

Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG)

Die Aufgaben der Betriebsärzte werden in § 3 Abs. 1 ASiG aufgezählt. Gemäß Abs. 1 S. 1 haben Betriebsärzte primär den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen. Nach § 4 ASiG darf der Arbeitgeber als Betriebsärzte nur Personen bestellen, die berechtigt sind, den ärztlichen Beruf auszuüben, und die über die zur Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde verfügen. Dies stellt eine spezialgesetzliche Ausformulierung des Arztvorbehalts dar, der sich konsequenterweise grundsätzlich auf die in § 3 ASiG aufgezählten Aufgaben bezieht. Gemäß § 10 ASiG arbeiten Betriebsärzte und die Fachkräfte für Arbeitssicherheit zusammen. Dies ist allerdings kein Fall von Delegation, sondern vielmehr ein solcher der Kooperation. Jeder Teil ist im Falle einer Kooperation für sein Handeln selbst verantwortlich (BMAS
2019).

Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV)

Die ArbMedVV ist eine Verordnung, die den Arbeitsschutz adressiert und sich dabei an Ärzte und Arbeitgeber richtet. Nach § 1 Abs. 1 ArbMedVV ist es das Ziel der Verordnung, durch Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge arbeitsbedingte Erkrankungen einschließlich Berufskrankheiten frühzeitig zu erkennen und zu verhüten. Zwar enthält die ArbMedVV selbst keine Vorgaben hinsichtlich möglicher Delegationen. Sie kennt aber bestimmte Pflichten der Betriebsärzte, die nicht delegiert werden können (vgl. § 6 ArbMedVV; VDBW 2015).

Konsequenzen bei Verstößen

Verstöße gegen den Arztvorbehalt in Form von rechtswidriger Delegation an nicht-ärztliches Personal können nicht nur medizinische Folgen haben, sondern bringen auch rechtliche Konsequenzen mit sich.

Medizinische Risiken

Delegationen von Aufgaben, die eigentlich dem Arztvorbehalt unterliegen, können mitunter schwere Folgen nach sich ziehen. Eine fehlerhafte Beratung kann beispielswiese zum Unterlassen einer medizinisch indizierten Folgebehandlung führen oder nicht lege artis durchgeführte Injektionen zu Abszessen. Im arbeitsmedizinischen Bereich ist vor allem auch an eine fehlerhafte Einschätzung der Arbeitsbedingungen zu denken, die zu Schäden bei den Beschäftigten/Probanden führen kann.

Juristische Perspektive

Aus juristischer Sicht spielen vor allem Fragen der Haftung eine wichtige Rolle. Es geht um die Haftung des delegierenden Arbeitsmediziners, aber auch um die Haftung der ausführenden Fachkraft. Hinzuweisen ist an der Stelle auch auf Fälle, in denen nicht-ärztliches beziehungsweise nicht qualifiziertes Personal selbstständig Aufgaben wahrnimmt, die nicht zu seinem Kompetenzbereich gehören, ohne von einem Mediziner dazu bestimmt worden zu sein. Dies betrifft vorwiegend arbeitsmedizinisch-sicherheitstechnische Dienste. Hinzu kommt eine weitere haftungsrechtliche Dimension, und zwar die der Unternehmen/Organisatoren, die bewusst keine (im Zweifel teureren) Angehörigen der Gesundheitsberufe einsetzen.

Zivilrechtliche Haftung

Zunächst ist auf die zivilrechtliche Haftung der Beteiligten einzugehen. Hierfür muss in einem ersten Schritt zwischen delegierbaren und nicht-delegierbaren Leistungen unterschieden werden. Delegierbar sind zum Beispiel administrative Aufgaben (vgl. Anhang zur Anlage 24 des BMV-Ä). Delegierbar sind im Arzt-Betriebs-Verhältnis beispielsweise die Beratung und Erprobung von persönlicher Schutzausrüstung, Zusammenstellen, Strukturieren und Schreiben von Gesundheits- und Tätigkeitsberichten und im Arzt-Beschäftigten-Verhältnis zum Beispiel das Vor- und Nachbereiten ärztlicher Stellungnahmen, die Durchführung der apparatetechnischen Untersuchungen sowie der Einsatz von Telemedizin (BMAS 2019). Nicht delegierbar sind dagegen im Arzt-Betriebs-Verhältnis unter anderem die Empfehlung von Arbeitsschutzmaßnahmen und die Teilnahme an Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (BMAS 2019).

Haftung des Arztes

Bei jeder medizinischen Behandlung muss der medizinische Standard eingehalten werden. Ist dies nicht gegeben, liegt ein Behandlungsfehler vor (von Säcker et al. 2023). Die zivilrechtliche Haftung richtet sich vor allem nach den §§ 280, 278 BGB (vertragliche Haftung) beziehungsweise den §§ 823 Abs. 1, 831 BGB (deliktische Haftung). Eine Unterscheidung zwischen vertraglicher und deliktischer Haftung ist in der Praxis allerdings aufgrund des weitgehend gleichlaufenden Patientenschutzes nicht von großer Relevanz (Bergmann 2009).

Eine Prämisse für die Möglichkeit der Delegation von Leistungen eines Arztes an nicht-ärztliches Personal liegt darin, dass der Arzt gegenüber diesem Personal weisungsbefugt sein muss (Krull 2015). Um keine juristischen Risiken einzugehen, sollte daher jeder Arzt, der Aufgaben delegieren will, in seinem Arbeitsvertrag festhalten (lassen), welche Aufgaben er an wen abgeben darf und welche Qualifikationen der Mitarbeiter haben muss (Krull 2015).

Im Grundsatz werden auch delegierbare Leistungen als Leistungen des Betriebsarztes eingeordnet (BMAS 2019). Die Gesamtverantwortung für die delegierte Aufgabe und deren Aus- und Durchführung verbleibt also beim Betriebsarzt (BMAS 2019). Nach dem ersten Schritt der Eruierung, ob eine Leistung überhaupt delegiert werden durfte (Delegationsverschulden), ist im Falle eines Schadenseintritts beim Probanden in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Betriebsarzt seine Auswahl-, Anleitungs-, und Überwachungspflicht beachtet hat (BMAS 2019). Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt Eingriffe an nicht-ärztliches Personal delegiert, obwohl dieses keinen entsprechenden Kenntnisstand hat (Weiss 2015). Nach dem sog. Vertrauensgrundsatz darf der Arzt jedoch grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Mitarbeiter, an den er die konkrete Aufgabe delegiert hat, diese auch pflichtgemäß ausführt (Terbille u. Feifel 2020).

Der Betriebsarzt haftet gegenüber dem Probanden nicht nur für eigene Fehler, sondern auch für Pflichtverletzungen, die der nicht-ärztliche Mitarbeiter im Rahmen der Delegation begangen hat (Krull 2015). Es ist deshalb zu empfehlen, die Rahmenbedingungen der Delegation vertraglich festzuhalten (s. oben) sowie auch den Delegationsverlauf detailliert zu dokumentieren. Diese Empfehlung hat ihren Hintergrund in den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen im Bereich der Beweislast (OLG Koblenz Urt. v. 13.01.2016 – 5 U 290/15). Nach dieser Rechtsprechung muss der Arzt nachweisen, dass er bei der Delegation der jeweiligen Aufgabe keine Pflichtverletzung begangen hat (Krull 2015).

Der delegierende Arzt hat sich grundsätzlich in räumlicher Nähe der delegierten Behandlung aufzuhalten, um schnell erreichbar zu sein (BMAS 2019). Dies steht einer kurzfristigen Abwesenheit jedoch nicht entgegen. Ferner kann es für eine konkrete Behandlung ausreichend sein, wenn der Arzt per Fernkommunikationsmittel erreichbar ist. Dies dürfte aber nur in solchen Fällen zulässig sein, in denen eine Fernbehandlung den medizinischen Standards entspricht (Wolf 2022).

Findet keine entsprechende Überwachung durch den Arzt statt oder ist der Mitarbeiter, dem die Aufgabe übertragen wurde, nicht ausreichend qualifiziert, liegt damit ein Organisationsfehler des Arztes vor, der eine Haftung nach sich zieht (Terbille u. Feifel 2020). Ein Organisationsverschulden des Arztes kann mithin zu einem Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB
führen.

Arbeitsrechtlich ist an eine Abmahnung oder Kündigung des Arztes beziehungsweise des Mitarbeiters gemäß § 626 BGB zu denken. Wird eine Aufgabe delegiert, die eigentlich nicht hätte delegiert werden sollen, kann es außerdem zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen kommen (Steinhilper 2013). Ferner dürfen Leistungen aus unzulässiger Delegation nicht entsprechend abgerechnet werden (Bundessozialgericht [BSG], Urt. v. 15.04.1997 – 1 RK 4/96).

Haftung des nicht-medizinischen Personals

Nicht nur der delegierende Arzt muss sich stets pflichtgemäß verhalten, auch die nicht-ärztlichen Fachkräfte müssen Sorgfaltspflichten einhalten. Jeder Mitarbeiter, der eine entsprechende Aufgabe übernimmt, muss selbst einschätzen, ob er dieser Aufgabe gewachsen ist und die Aufgabe lege artis durchführen kann (BMAS 2019). Im Vordergrund steht hier zumeist eine deliktische Haftung, weil der Patient mit dem nicht-ärztlichen Personal keinen Behandlungsvertrag abgeschlossen hat.

Haftung des Arbeitsmedizinischen Zentrums im Dreiecksverhältnis

Auch muss das oben bereits erwähnte Spannungsverhältnis zwischen Arbeitsmedizinischem Zentrum (AMZ), Arbeitsmediziner und nicht-ärztlichem Mitarbeiter Beachtung finden. Das Verhältnis von AMZ und Arbeitsmediziner ist grundsätzlich in einem Dienstvertrag fixiert, der alle wesentlichen Aspekte der Delegation enthalten sollte. Verantwortlich für die Delegation ist der Arbeitsmediziner selbst (s. oben). Dennoch kommt es vor, dass ein AMZ den Mediziner derart „übergeht“, dass es nicht-ärztliche Mitarbeiter direkt beauftragt, beispielsweise mit einer Vorsorge in Bezug auf Büroarbeitsplätze, und diese Dienstleistung dann dem Kunden (Betrieb) in Rechnung stellt. Zum Teil geschieht dies ohne Wissen des Arbeitsmediziners, teilweise befunden Arbeitsmediziner Dinge, von denen sie gar keine direkte Kenntnis haben konnten. Aus haftungsrechtlicher Sicht kann die Verantwortung zumindest im erstgenannten Fall nicht beim Arbeitsmediziner liegen, da dieser von der „Delegation“ durch das AMZ nicht in Kenntnis gesetzt wurde.

Strafbarkeit

Der Vollständigkeit halber soll auch kurz auf eine mögliche Strafbarkeit eingegangen werden. Im Strafrecht können vor allem die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB), die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) und der Betrug (§ 263 StGB) relevant sein. Für eine fahrlässige Körperverletzung beziehungsweise Tötung muss jeweils eine Pflichtverletzung des Arztes vorliegen. Bei einer fehlenden Einwilligung des Patienten/Probanden ist zudem an eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Delikte, zum Beispiel einer vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 StGB) zu denken (Kaufhold 2021).

Ergebnis und Handlungsempfehlungen

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass trotz vielfacher und tiefer Auseinandersetzungen mit dem Thema der Delegation ärztlicher Leistungen an nicht-ärztliches Personal noch keine festen und abschließenden Kriterien entwickelt worden sind, die die Zulässigkeit einer Delegation festlegen. Dennoch sind viele Bereiche mittlerweile klar als delegierbar oder nicht delegierbar abgesteckt. Häufig läuft die Praxis, vor allem in der Arbeitsmedizin, diesen Grundsätzen zuwider. Im Zweifel gilt, wie so oft, den sichersten Weg zu gehen und eine medizinische Aufgabe nicht ohne Weiteres an nicht-ärztliches Personal zu delegieren. Etwaigen Unsicherheiten kann durch spezielle Fortbildungen begegnet werden: Der VDBW bietet beispielsweise entsprechende Fortbildungsveranstaltungen für medizinische Fachangestellte und andere Berufszweige in der Arbeitsmedizin an. Zumindest darf dazu geraten werden, die Kernelemente der Delegation nachhaltig und präzise zu dokumentieren.

Interessenkonflikt: Der Autor und seine Koautorin geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Bergmann KO: Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen auf/durch nichtärztliches Personal. Medizinrecht 2009; 27: 1–10.

BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Delegation – Arbeitsmedizinische Empfehlung. Bonn: BMAS, 2019.

Deutsch E, Spickhoff A: Medizinrecht. Berlin, Heidelberg: Springer, 2014.

Hahn B: Zulässigkeit und Grenzen der Delegierung ärztlicher Aufgaben – Zur Übertragung von Blutentnahmen, Injektionen, Infusionen und Bluttransfusionen auf nichtärztliches Assistenzpersonal. Neue Jurist Wochenschr 1981; 37: 1977–1984.

Interview mit Astrid Tomczak LL.M. (Pharmarecht): Arztvorbehalt und Delegation. https://www.mdmverlag.com/aktuell-derma/arztvorbehalt-und-delegation/ (abgerufen am 16.03.23).

Kaufhold J: Persönliche Leistungserbringung und Delegation. J Asthet Chir 2021; 14: 128–135.

Krull B: Delegation ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Personal: Möglichkeiten und Grenzen. Dtsch Arztebl Int 2015; 3: 2–3.

Spickhoff A, Seibl M: Haftungsrechtliche Aspekte der Delegation ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Medizinpersonal unter besonderer Berücksichtigung der Anästhesie. Medizinrecht 2008; 26: 463–473.

Steinhilper G: Disziplinar- und Entziehungsverfahren aus Sicht der Kassenärztlichen Vereinigungen. In: Ehlers APF (Hrsg.): Disziplinarrecht für Ärzte und Zahnärzte. München: C.H. Beck, 2013; Kapitel 5.

Terbille M, Feifel E: Zivilrechtliche Arzthaftung. In: Clausen T, Schroeder-Printzen J (Hrsg.): Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht. München: C.H. Beck 2020; § 1.

VDBW – Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V.: Delegation betriebsärztlicher Leistungen. Karlsruhe: VDBW, 2015.

Von Säcker F-J, Rixecker J, Oetker H, Limperg B (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. München: C.H.Beck, 2023.

Weiß R: Reichweite und Grenzen der Delegationsfähigkeit ärztlicher Leistungen auf Nichtärzte im Krankenhaus. Gesundheitsrecht 2015; 5: 262–268.

Wildgans H: Prämissen betriebsärztlicher Delegation und Kooperation. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 46: 780–783.

Wolf, AL: Telemedizin im Rechtsvergleich. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2022.

doi:10.17147/asu-1-288490

Weitere Infos

Interview mit Astrid Tomczak LL.M. (Pharmarecht): Arztvorbehalt und Delegation (abgerufen am 16.03.23)
https://www.mdmverlag.com/aktuell-derma/arztvorbehalt-und-delegation/

Kernaussagen

  • Die Delegation – besonders in der Arbeitsmedizin – ist problematisch.
  • Der Spagat zwischen Fachkräftemangel und Delegation wirft rechtliche sowie fachliche Fragen auf.
  • Grundsätzlich gilt die persönliche ärzt­liche Leistungserbringungspflicht.
  • Im Graubereich, besonders im Dreiecksverhältnis Arzt-Assistenz und Arbeits­medizinisches Zentrum, fehlen obergerichtliche Urteile.
  • Die präzise Dokumentation einer Delegation kann vor nachgehenden Problemen schützen.
  • Koautorin

    Dr. iur. Annabel L. Wolf
    Rechtsreferendarin am Oberlandesgericht (OLG) Köln

    Kontakt

    Dr. med. Hans-Jürgen Merkel, MBA
    Adolf-Diesterweg-Str. 59; 67071 Ludwigshafen

    Foto: privat

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