Im Jahr 1984 wurden von einem interdisziplinären Expertenkreis erstmals „Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie“ erarbeitet. Diese wurden 1996 von den gesetzlichen Unfallversicherungen anerkannt und in deren Schriftenreihe publiziert (Ausschuss Arbeitsmedizin 1996). 2006 unterstrich das Bundessozialgericht die Bedeutung dieser Leitlinien, indem es festhielt, dass „nur auf dieser Grundlage … Feststellungen zur beruflichen Einsetzbarkeit eines Epilepsiekranken nachvollziehbar“ seien (BSG 12/2006; B 13 R 27/06 R). 2015 sind die Leitlinien in einer Neuauflage unter dem Namen „DGUV-Information 250-001“ erschienen (s. „Weitere Infos“). Wesentliche Neuerung – neben erstmalig aufgeführten Beurteilungskriterien für Personen nach einem ersten epileptischen Anfall – ist eine Anpassung der erforderlichen anfallsfreien Beobachtungszeiten an die Führerschein-Leitlinien von 2014, in denen generell eine einjährige Anfallsfreiheit als Voraussetzung für die Führerscheingruppe 1 gilt (Bundesanstalt für Straßenwesen 2014).
Fragestellung
In der 2015er Neuauflage (DGUV-Information 250-001) wird mittelfristige Anfallsfreiheit definiert als anfallsfrei mehr als ein Jahr unter Pharmakotherapie, während in der Vorauflage („BGI 585“) eine mindestens zweijährige Anfallsfreiheit gefordert wurde (Ausschuss Arbeitsmedizin 2007). Die übrigen Fristen blieben unverändert – anfallsfrei 1 Jahr nach operativer Therapie, Anfälle nur aus dem Schlaf 3 Jahre unter Pharmakotherapie sowie einfach-fokale Anfälle ausschließlich mit subjektiven Störungen (Gefährdungskategorie „0“) 1 Jahr.
Bei mehr als einjähriger Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie werden bei der überwiegenden Zahl der in der „DGUV Information 250-001“ exemplarisch beurteilten Tätigkeiten und Berufe grundsätzlich keine Bedenken geäußert. Es gibt jedoch einige Ausnahmen ( Tabelle 1). So wird im Beruf Kinderkrankenpflege eine 2-jährige Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie für die uneingeschränkte Berufseignung gefordert. Der Grund hierfür sind einzelne Tätigkeiten, bei denen es im Falle eines Anfalls zu einer besonders hohen Eigen- oder Fremdgefährdung kommen kann, z. B. beim Tragen von Säuglingen in der Kinderkrankenpflege. In Einzelfällen wird auch für eine konkrete Gefährdungskategorie eine zweijährige Anfallsfreiheit gefordert, z. B. bei der Arbeit auf Hubarbeitsbühnen, wenn es zu Anfällen der Gefährdungskategorie „D“ kommt. Von Bedeutung können auch Kontextfaktoren sein, die die Gefährdungen verringern, wenn beispielsweise im Bereich Krankenpflege beim Endoskopiedienst allein der Arzt die Untersuchung durchführt und die Pflegekraft ausschließlich assistiert. Kontextfaktoren können Gefährdungen aber auch erhöhen, z. B. in der Familienpflege, wo die Tätigkeit in der Regel alleine ausgeübt wird.
Erfahrungen bei der Beratung von Menschen mit Epilepsie auf der Basis der „DGUV Information 250-001“ zeigen, dass es für Tätigkeiten oder Berufe, die in der Schrift nicht erwähnt sind, im Einzelfall schwierig ist zu entscheiden, ob eine einjährige Anfallsfreiheit ausreichend ist oder eine zweijährige Anfallsfreiheit erforderlich ist. Dieser Beitrag will Hilfestellungen für diese Situationen geben.
Vorgehen
Die Autorinnen und Autoren, die alle über Jahre in der beruflichen Beratung von Menschen mit Epilepsie aktiv sind und von denen zwei (R.T., U.S.) an der 2015er Überarbeitung der „DGUV Information 250-001“ beteiligt waren, haben die Tätigkeiten, für die in der „DGUV Information 250-001“ eine mindestens zweijährige Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie gefordert wird, um einige für die Beratungspraxis relevante zusätzliche Tätigkeiten ergänzt. Für jede Tätigkeit wurde entschieden, ob für deren Ausübung eine ein- oder eine zweijährige Anfallsfreiheit zu fordern ist. Sofern die speziellen Berufskenntnisse der Autorinnen und Autoren nicht ausreichten, wurden erfahrene Personen aus den jeweiligen Tätigkeitsfeldern (in der Regel Handwerksmeister) hinzugezogen.
Es wurden nur solche Tätigkeiten ausgewählt,
- die einen möglichst guten Bekanntheitsgrad haben, also nicht zu speziell sind und daher gut als Beispiel taugen,
- die man bei persistierenden Anfällen nicht ausführen kann,
- deren Beurteilung nicht bereits in der DGUV 250-001 differenzierter dargestellt wurde (z. B. Tätigkeiten mit Absturzgefahr).
Bei der Beurteilung der einzelnen Tätigkeiten wurde als Kriterium für die Notwendigkeit einer zweijährigen Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie das Risiko für einen schweren Gesundheitsschaden im Falle eines Anfallsrezidives genommen, entsprechend des Schweregrades 3 nach einer von Lawn et al entwickelten Einstufung ( Tabelle 2; Lawn et al. 2004). Geprüft wurde dann, ob ein ein- oder zweijähriger anfallsfreier Zeitraum zu fordern ist, bevor die Tätigkeit wieder ausgeübt werden kann ( Tabelle 3).
Ergebnisse
Tabelle 3 zeigt, wann bei den zusätzlich zu den in der „DGUV Information 250-001“ aufgeführten Tätigkeiten schon nach einjähriger und wann erst nach zweijähriger Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie grundsätzlich keine gesundheitlichen Bedenken bestehen.
Folgerungen
Die in der „DGUV Information 250-001“ von 2015 vorgenommene Unterscheidung zwischen ein- bzw. zweijähriger Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie als Zugangskriterium zu Tätigkeiten bzw. Berufen mit besonders hoher Fremd- oder Eigengefährdung hat sich bei unserer ergänzenden Beurteilung weiterer in der „DGUV Information 250-001“ nicht aufgeführter Tätigkeiten als praktikabel erwiesen.
Damit erweist sich die in der „DGUV Information 250-001“ vorgenommene Unterscheidung zwischen mindestens einjähriger und mindestens zweijähriger Anfallsfreiheit unter Pharmakotherapie gegenüber der Vorauflage der berufsgenossenschaftlichen Empfehlungen (BGI 585) von 2007 als differenzierter, sowohl was die beruflichen Risiken als auch was den jeweiligen Behandlungsstand betrifft. Dies macht eine noch stärker individualisierte Beurteilung der beruflichen Eignung möglich.
In der Praxis der beruflichen Beurteilung sollte allerdings immer die konkrete Situation am Arbeitsplatz im Auge behalten werden, in der Kontextfaktoren und die individuellen Expositionszeiten die Gefährdung erhöhen oder vermindern können.
Danksagung: Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne genaue Kenntnis einzelner beruflicher Tätigkeiten, aus denen sich dann die Gefährdungen bei unterschiedlichen Anfallsabläufen ableiten ließen. Für fachkundige Beratung danken wir Herrn Dr. med. Martin Stumpf, Ärztlicher Dienst, Bundesagentur für Arbeit, Agenturverbund Nord, Rostock, und den beratenden Handwerksmeistern der folgenden Betriebe: Tischlerei Bethel; Werkstatt Kracks, Bethel; KFZ Werkstatt Ullrich Helfmann, Bielefeld; Fachbereich Agrarwirtschaft des Berufsbildungswerkes Bethel, Abteilung Garten und Landschaftsbau. Für die in diesem Aufsatz getroffenen Aussagen liegt die Verantwortung aber alleine bei dessen Autorinnen und Autoren.
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Ausschuss „Arbeitsmedizin“ des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG): BG-Information: Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie (BGI 585). Köln: Carl Heymanns Verlag, 2007.
Ausschuss „Arbeitsmedizin“ des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG): ZH 1/191. Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie. Köln: Carl Heymanns Verlag, 1996.
Bundesanstalt für Straßenwesen: Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Reihe „Mensch und Sicherheit“ Heft M 115. Bremerhaven: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH, 2014.
DGUV Grundsatz G26 in: Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, 5. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2010.
Lawn ND et al.: Injuries due to seizures in persons with epilepsy: a population-based study. Neurology 2004; 63: 1565–1570.
Weitere Infos
Ausschuss Arbeitsmedizin der Gesetzlichen Unfallversicherung, unter Mitarbeit von Berkenfeld R, Bonneman S, Brodisch P, Hupfer K, Legner R, Specht U, Stumpf M, Thorbecke R: Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach erstem epileptischen Anfall (DGUV-Information 250-001). DGUV, 2015
publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/250-001.pdf
DGUV Regel 103-011 „Arbeiten unter Spannung an elektrischen Anlagen und Betriebsmitteln“, Januar 2006
Koautoren
Mitautoren des Beitrags sind Ingrid Coban, M.A., Doris Schierbaum, Dipl. Sozialarbeiterin (FH), und Dr. Ulrich Specht, alle Epilepsiezentrum Bethel, Bielefeld
Für die Autoren
Rupprecht Thorbecke M.A.
Epilepsiezentrum Bethel
33617 Bielefeld
Foto: privat