Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Gibt es typische Infektionskrankheiten bei Geflüchteten?

Die medizinische Versorgung von Geflüchteten ist bundesweit das dominierende Thema unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen deutschen Gesundheitsämtern. Durch die 2015 rasant gestiegene Zahl von Menschen auf der Flucht, die in Deutschland ankommen, wird das medizinische Versorgungssystem mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst sowie der ambulanten und stationären Regelversorgung vor eine große Herausforderung gestellt. Der aktuelle Gesundheitszustand der Schutz und Sicherheit suchenden Menschen ist durch die Lebensumstände in ihrer Heimat, die Umstände der Flucht, die Überwindung der Außengrenze der Europäischen Union (EU), die Weiterreise innerhalb der EU und letztendlich ihre Ankunft in Deutschland geprägt (Tinnemann et al. 2016).

Unter den gesundheitlichen Problemen spielen dabei die Prävention und Kontrolle von Infektionskrankheiten eine wichtige Rolle. Zum einen, weil die Geflüchteten als Folge der Migration unter teilweise extrem belastenden Bedingungen und eines möglicherweise fehlenden oder unvollständigen Impfschutzes vulnerabler gegenüber Infektionen sind. Zum anderen bedingt die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und die damit einhergehende räumliche Enge (insbesondere bei Unterbringung unter provisorischen Bedingungen) eine Möglichkeit der schnellen Weiterverbreitung primär unter den Geflüchteten (Beermann et al. 2015).

Große Unsicherheit zu Beginn der Flüchtlingswelle

Zu Beginn der Flüchtlingswelle herrschte große Unsicherheit bezüglich des Spektrums der erwartbaren Infektionskrankheiten. Insbesondere mit Blick auf die Herkunftsländer standen dabei gemäß reisemedizinischen Informationen Risiken wie z. B. Anthrax (Bacillus anthracis), Brucellose (z. B. Brucella melitensis) und Krim-Kongo-Fieber (CCHF-Virus) bei Flüchtlingen aus Syrien, teilweise ergänzt um Denguefieber (Denguevirus) und Vogelgrippe (Influenzavirus A/H5N1) bei Geflüchteten aus Afghanistan und Irak im Raum (Rieke 2015). Auch das Robert Koch-Institut (RKI) informierte die Fachöffentlichkeit über „ungewöhnliche“ Infektionskrankheiten, die bei Asylsuchenden auftreten können (RKI 2015a, s. „Weitere Infos“). Hierzu gehörten altersunabhängig u. a. Malaria (u. a. Plasmodium falciparum), Läuserückfallfieber (Borrelia recurrentis) oder auch Lassafieber (Lassavirus). Bei Neugeborenen und Kleinkindern wurde neben verschiedenen bakteriellen Meningitis-Erregern (u. a. Hämophilus influenzae b) auch auf Tetanus (Clostridium tetani) und kompliziert verlaufende Tuberkulosefälle (Mykobakterium tuberculosis) mit Beteiligung des zentralen Nervensystems verwiesen. Gemeinsame Eigenschaften dieser Infektionskrankheiten waren, dass sie in Deutschland nur selten auftreten, mit einem akuten Krankheitsbild einhergehen (was ggf. bei einer einmaligen Untersuchung auffallen könnte), unbehandelt möglicherweise mit einer hohen Letalität einhergehen und eine lange Inkubationszeit bzw. einen langen Krankheitsverlauf aufweisen.

Neben diesen ungewöhnlichen infektiologischen Risiken stellte das RKI auch eine Auswahl von häufigen Infektionskrankheiten vor, die aufgrund ihres Übertragungsweges, ihres gehäuften Vorkommens in Gemeinschaftseinrichtungen oder ihres Ausbruchspotenzials als relevant eingeschätzt wurden (Beermann et al. 2015). Da die Asylsuchenden häufig aus Ländern oder Bevölkerungsgruppen mit eingeschränktem Zugang zu Impfungen stammen, nannte das RKI dabei auch mit Masern, Windpocken, Mumps, Keuchhusten, Influenza und Hepatitis A eine Reihe von impfpräventablen Erregern, für die teilweise ein mittleres oder gar hohes Ausbruchsrisiko bekannt ist.

Lernen aus der Vergangenheit

Eine weitere wichtige Analyse stellten Mitarbeiter des RKI auf dem Bundeskongress der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes 2015 in Rostock vor. Dabei wurden Daten von Ausbrüchen in Asylunterkünften in den Jahren 2001 bis 2013 präsentiert. Unter den insgesamt 78 Ausbrüchen von meldepflichtigen Infektionskrankheiten, die bei 216 741 im gleichen Zeitraum in Deutschland insgesamt deutlich weniger als ein Promille ausmachten, standen mit Windpocken, Tuberkulose und Masern drei erwartete Ausbruchsverursacher auf den Positionen 1 bis 3. Betrachtete man zusätzlich die mit den einzelnen Erreger verbundene Fallzahl, veränderte sich das Bild. Zwar waren die Windpocken mit 28 % (115 von insgesamt 411 Fällen) weiterhin führend, jetzt allerdings gefolgt von Norovirus-Gastroenteritiden mit 15 % (63/411) und Masern mit 13 % (55/411). Die Tuberkulose mit ihrem vergleichsweise geringeren Ausbruchspotenzial rutschte mit 7 % (27/411) auf Platz vier ab. Interessanterweise spielte sowohl bei Betrachtung der Ausbruchsauslöser (7,7 %, 6/78) als auch der damit verbundenen Fallzahl (9 %, 39/411) die Krätze (Skabies) als nicht meldepflichtige Infektionskrankheit eine bedeutsame Rolle (Kühne u. Gilsdorf 2015).

Die gleichen Autoren legten 2016 eine aktualisierte Analyse der Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftseinrichtungen für Asylsuchende auf der Basis der infektionsepidemiologischen Surveillance gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) vor (Kühne u. Gilsdorf 2016). Danach war in 2014 ein deutlicher Anstieg der Ausbruchszahlen auf 60 von insgesamt 119 übermittelten Ausbrüchen und damit mehr als in den vorangegangenen 10 Jahren zusammen zu verzeichnen. Der Anteil von Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende an allen übermittelten Ausbrüchen erhöhte sich dabei von

Die Gegenwart bestätigt die Vergangenheit

Mit einem Informationsbrief des RKI vom 25. September 2015 wurden alle Gesundheitsämter gebeten, den Status „asylsuchend“ als zusätzliche Information zu den Fallmeldungen gemäß IfSG zu erheben und zu übermitteln. Auf dieser Basis konnten im weiteren Verlauf gezielte Auswertungen zu Infektionskrankheiten bei Geflüchteten erstellt werden. Wesentliche Erkenntnis dieser unverändert durchgeführten Analyse, die monatlich vom RKI im Internet veröffentlicht wird (www.rki.de), ist, dass bei Asylsuchenden im gesamten Zeitraum impfpräventable Erkrankungen und Magen-Darm-Infektionen im Vordergrund stehen (RKI 2016; Stand: 21.09.2016). Häufigster Erreger der übermittelten 5170 Fälle waren Windpocken mit 1688 Erkrankungen in den ersten 35 Kalenderwochen 2016. Setzt man die Fallzahlen bei Geflüchteten ins Verhältnis zu den in Deutschland insgesamt gemeldeten Infektionskrankheiten, so weisen Brucellose (45,8 %, 11/25 Fälle), Masern (33,6 %, 81/241), Tuberkulose (32,2 %, 1336/4146), Hepatitis B (31,7 %, 649/2047) und Hepatitis A (24,1 %, 119/494) zweistellige Prozentanteile auf. Wie auch in der Allgemeinbevölkerung findet sich der höchste Anteil an Fällen bei den 0- bis 4-Jährigen. Die einzige „ungewöhnliche“ Infektionskrankheit war neben der Brucellose das Läuserückfallfieber, das jedoch lediglich in 5 Fällen gemeldet wurde.

Die Erstaufnahmeuntersuchung mit gleichzeitigem Impfangebot hilft!

Infektionen frühzeitig zu erkennen, zu behandeln und eine Übertragung zu verhindern ist das wesentliche Ziel der im Asylgesetz § 62 vorgeschriebenen Erstaufnahmeuntersuchung in Kombination mit einem Impfangebot. In den meisten Bundesländern übernimmt der öffentliche Gesundheitsdienst diese Aufgabe. Die Festlegung des Umfangs der Erstaufnahmeuntersuchung liegt im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer. Allerdings hat das RKI in Anlehnung an einen Vorschlag des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) im Oktober 2015 eine Empfehlung für einen bundesweit gültigen Mindeststandard ausgesprochen, der im Sinne des Infektionsschutzes vor oder unverzüglich nach einer Aufnahme in die Gemeinschaftsunterkunft durchgeführt werden soll (RKI 2015b, s. „Weitere Infos“). Geprüft werden dabei insbesondere Erkrankungen wie Tuberkulose, Masern, Windpocken, Norovirus sowie Krätze und Läuse, da diese aufgrund ihres möglichen schweren Verlaufs und ihrer Übertragbarkeit eine Gefahr für den Asylsuchenden selbst, aber auch für die anderen Bewohner der Gemeinschaftsunterkünfte darstellen können. Neben Befragung und einer Messung der Körpertemperatur wird die Haut auf das Vorhandensein von infektionsverdächtigen Zeichen, wie Hautausschläge an Gesicht und Hals als Ausdruck einer akuten Masern- oder Windpockeninfektion, untersucht sowie Auffälligkeiten in speziellen Körperregionen wie der Hände sowie der Zwischenfingerräume bei Krätzebefall oder der Kopfhaare hinter den Ohren auf das Vorhandensein von Läusen festgehalten. Hinzu kommt ab dem 16. Lebensjahr eine verpflichtende Röntgenaufnahme des Brustkorbs zum Ausschluss einer ansteckenden Tuberkulose. Für jüngere Personen und Schwangere stehen bei einem entsprechenden Verdacht immunologische Testverfahren zur Verfügung.

Auch eine Impfausweiskontrolle ist Bestandteil dieser medizinischen Maßnahme. Die meisten Asylsuchenden sind allerdings nicht im Besitz eines Impfausweises. Der oft unklare Impfstatus von Asylsuchenden macht es notwendig, Impfungen möglichst frühzeitig nach ihrer Ankunft in Deutschland nachzuholen. Dabei gelten die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut als Maßstab. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Verweildauer der Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtungen von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten reichen kann. Daher haben sich Bund und Länder auf ein „Mindest-Impfangebot“ für ungeimpfte Asylsuchende und jene mit unklarem Impfstatus verständigt. Dieses umfasst in Situationen, in denen die Empfehlungen der STIKO nicht vollständig umgesetzt werden können, am Alter des Asylsuchenden orientierte Empfehlungen (RKI 2015c, s. „Weitere Infos“). Auch hier stehen, ähnlich wie bei der Erstaufnahmeuntersuchung, die epidemiologische Bedeutung der Krankheiten, das Risiko von Ausbrüchen und der Schweregrad möglicher Erkrankungen im Zentrum der Überlegungen. So gehören u. a. Impfungen gegen Masern, Windpocken, Kinderlähmung oder Keuchhusten zu diesem Vorgehen. Neben diesem Mindestangebot sind weitere Impfungen schon während des Aufenthalts in den Erstaufnahmeeinrichtungen optional zu erwägen. Dazu gehört die saisonale Grippeschutzimpfung für alle Asylsuchenden – auch ohne Grunderkrankung. Nachholimpfungen, wie die 2. MMR-Impfung, sowie weitere Standard- und Indikationsimpfungen gemäß den Empfehlungen der STIKO, u. a. gegen humane Papillomviren oder Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus, können im weiteren Verlauf des Asylverfahrens in den Kommunen durchgeführt werden.

Fazit

Entgegen den Erwartungen und Befürchtungen zu Beginn der Flüchtlingswelle traten 2015 und 2016 mit Ausnahme einzelner Brucellosen und Läuserückfallfieber keine „ungewöhnlichen“ oder exotischen Infektionskrankheiten bei Geflüchteten auf. Vielmehr bestätigten sich die Erfahrungen der Vergangenheit, die auf eine große Bedeutung von impfpräventablen Infektionskrankheiten wie Windpocken oder Masern, auf die Tuberkulose als klassische Erkrankung bei Flucht aus Ländern mit höherer Prävalenz bzw. vielen Expositionsmöglichkeiten während der Migration, auf Skabies als typischen Problemerreger unter beengten und hygienisch schwierigen Bedingungen und auf virale Gastroenteritiserreger schließen ließen. Somit waren der Umfang sowohl der Erstaufnahmeuntersuchung als auch des begleitenden Impfangebots für die Geflüchteten sinnvoll und geeignet, die Infektionsrisiken einzudämmen. In Bezug auf die Frage, ob es typische Infektionskrankheiten bei Geflüchteten gibt, lautet die Antwort daher: im Wesentlichen keine anderen als bei der einheimischen Bevölkerung.

Literatur

Beermann S, Rexroth U, Kirschner M, Kühne A, Vygen S, Gilsdorf A: Asylsuchende und Gesundheit in Deutschland – Überblick über epidemiologisch bedeutsame Infektionskrankheiten. Dtsch Ärzteb 2015; 112: A1717–A1720.

Kühne A, Gilsdorf A: Ausbrüche von meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende 2004–2014 in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 2016; 59: 570–577.

Rieke B: Referenzhandbuch Impf- und Reisemedizin. 5. Aufl. Düsseldorf: MedPrä GmbH, 2015.

Robert Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 38. Berlin: Robert Koch-Institut, 2015a.

Robert Koch-Institut: Vorscreening und Erstaufnahmeuntersuchung von Flüchtlingen. Berlin: Robert Koch-Institut, 2015b.

Robert Koch-Institut: Konzept zur Umsetzung frühzeitiger Impfungen bei Asylsuchenden nach Ankunft in Deutschland. Epidemiologisches Bulletin Nr. 41. Berlin: Robert Koch-Institut, 2015c.

Robert Koch-Institut: Dem Robert Koch-Institut übermittelte meldepflichtige Infektionskrankheiten bei Asylsuchenden in Deutschland. August 2016 (31.–35. Kalenderwoche), Stand: 21.09.2016. Berlin: Robert Koch-Institut, 2016.

Tinnemann P et al.: Medizinische Versorgung von Flüchtlingen durch den öffentlichen Gesundheitsdienst: Allzeit bereit – nur wie lange noch? Gesundheitswesen 2016; 78: 195–199.

    Weitere Infos

    Kühne A, Gilsdorf A: Ausbrüche von meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften von Asylbewerbern in Deutschland 2001–2013. Vortrag auf dem 65. Bundeskongress der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in Rostock, 2015

    service.gentnerverlag.de/download/pdf/ASU/Rissland1.pdf

    Kühne A, Gilsdorf A: Ausbrüche von meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften von Asylbewerbern in Deutschland 2001–2013. Bundesgesundheitsbl 2016; 59: 570–577

    service.gentnerverlag.de/download/pdf/ASU/Rissland2.pdf

    Für die Autoren

    Dr. med. Jürgen Rissland, MBA

    Institut für Virologie

    Universitätsklinikum des Saarlandes

    Kirrberger Str. 100

    66421 Homburg/Saar

    juergen.rissland @uks.eu

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen