Lärmschwerhörigkeit
Die Gefahr einer Lärmschwerhörigkeit besteht bei arbeitstäglich 8 Stunden lang einwirkenden Beurteilungspegeln von mindestens 85 dB(A). Deshalb hat der Arbeitgeber solche Bereiche, in denen Beurteilungspegel von mindestens 85 dB(A) erreicht werden oder nicht bewertete Höchstwerte von 140 dB auftreten, als Lärmbereiche zu kennzeichnen und den dort Beschäftigten in diesen Bereichen geeignete Schallschutzmittel zur Verfügung zu stellen, die diese aber erst ab einem Beurteilungspegel von mindestens 90 dB(A) tragen müssen.
Die Lärmschwerhörigkeit ist eine irreversible, meist beidseitig auftretende Innenohrschädigung. Ein charakteristisches diagnostisches Merkmal ist der zunächst isolierte Hörverlust im Bereich von ca. 4000 Hz (c5-Senke), der sich – sofern die Exposition nicht beendet wird – zu den tieferen und höheren Frequenzen hin ausbreitet. Leitsymptom der Lärmschwerhörigkeit ist die Diskrepanz in der Wahrnehmung von Flüster- und Umgangssprache. Die Sprache wird „verwaschen“ perzipiert, wobei die Vokale akzentuiert und die Konsonanten gedämpft wahrgenommen werden. Die Verständigung ist insbesondere bei Einwirkung von Umweltgeräuschen gestört, vor allem dann, wenn Unterhaltungen in größeren Gruppen stattfinden. Hinzu kommt in vielen Fällen ein Tinnitus.
Die Wahrscheinlichkeit, mit der sich eine Lärmschwerhörigkeit entwickelt, ist in ISO 1999 in Abhängigkeit von den Expositionsjahren, dem Alter und dem Geschlecht dargestellt. In Lärmbereichen beschäftigte Personen sind regelmäßig nach G 20 zu untersuchen.
Extraaurale Lärmwirkungen
Extraaurale Lärmwirkungen werden, entsprechend der Abfolge ihres Auftretens in primäre, sekundäre und tertiäre Wirkungen unterteilt.
Während der Einwirkung von Lärm sind Störungen der Kommunikation, der Ruhe und des Schlafes sowie vegetativer Funktionen (primäre Wirkungen) messbar. Aus diesen resultieren Beeinträchtigungen der Leistung und das Gefühl der Belästigung (sekundäre Wirkungen). Langfristig ist nicht auszuschließen, dass Lärm zur Entwicklung chronischer Erkrankungen beiträgt (tertiäre Wirkungen).
Kommunikationsstörungen
Am Arbeitsplatz können Störgeräusche (Maschinengeräusche, Hintergrundsprechen) die verbale Kommunikation der Beschäftigten untereinander ebenso wie die Kommunikation im Mensch-Maschine-System beeinträchtigen. Den Kommunikationsstörungen liegen die folgenden Mechanismen zugrunde:
- Maskierung : Hierbei wird der für den Arbeitsablauf wesentliche Informationsschall durch Störgeräusche überlagert und nicht mehr korrekt bzw. nur unvollständig wahrgenommen. Dies ist umso wahrscheinlicher, je mehr sich Stör- und Informationsschall in ihrer temporal-spektralen Struktur entsprechen.
- Ablenkung : Der Störschall kann von der aktuellen Arbeitstätigkeit im Sinne kaum gewöhnungsfähiger Orientierungsreaktionen ablenken.
- Lärmschwerhörigkeit : Indirekt kann Lärm über die Entwicklung einer Lärmschwerhörigkeit zu Kommunikationsstörungen führen.
Kommunikationsstörungen sind lästig, wenn in persönlich oder telefonisch geführten Gesprächen immer wieder nachgefragt und Informationen wiederholt werden müssen. Allein schon die hierfür erforderliche Zeit beeinträchtigt die Effizienz der Beschäftigten, insbesondere aber dann, wenn Informationen falsch verstanden oder, weil Gedankenketten abreißen, nicht weitergegeben werden. Besonders unangenehm sind Störungen der Einwegkommunikation, wenn Informationen nicht wiederholt werden können und endgültig verloren gehen. Schließlich ist auch eine Gefährdung möglich, wenn Warnrufe und Warnsignale nicht wahrgenommen werden können. Auf Dauer kann sich der Kommunikationsstil ändern, wobei die Betroffenen sich nur noch in kurzen abgehackten Sätzen unterhalten.
Schlafstörungen
Lärmbedingte Schlafstörungen, die in zunehmendem Umfang durch Verkehrslärm hervorgerufen werden, können konsekutiv zur Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und damit zu höherer Fehlerrate führen. Besonders relevant ist dies in Nachtschichtperioden. Der Schlaf ist am Tage schon, chronobiologisch bedingt, um 1 bis 2 Stunden verkürzt, infolge der am Tage 7–15 dB(A) höheren Pegel und des Anteils hoch informationshaltiger Geräusche (Nachbarschaftslärm, Telefon etc.) stärker beeinträchtigt als in der Nacht.
Autonome Funktionsänderungen
Lärm verursacht in der akuten Situation zahlreiche unspezifische Funktionsänderungen, d. h. Änderungen nicht willentlich gesteuerter Funktionen. Dazu gehören u. a. Beschleunigungen der Herzschlagfrequenz, Verengungen peripherer Gefäße, moderate Blutdrucksteigerungen und evtl. vermehrte Ausschüttungen von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol). Das Ausmaß dieser Reaktionen nimmt mit der Bandbreite und dem Pegel der einwirkenden Geräusche zu, wird aber auch durch Persönlichkeitsmerkmale wie etwa neurotische Tendenzen modifiziert. Die Reaktionen des Herz-Kreislauf-Systems sind nicht gewöhnungsfähig; sie nehmen weder im Laufe einer Arbeitsschicht noch im Laufe mehrerer Jahre ab und sind bei Lärmarbeitern, die täglich unter Einwirkung solcher Geräusche arbeiten, ebenso stark ausgeprägt wie bei Personen, die dem Lärm nur gelegentlich ausgesetzt sind. Die Persistenz dieser Reaktionen wird von einigen Autoren als besonders kritisch bewertet und letztlich als gesundheitlich relevant eingestuft.
Leistungsbeeinträchtigung
Lärm kann gravierende Störungen kognitiver Funktionen, d. h. grundlegender Prozesse des Denkens und Problemlösens, der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses verursachen. Die wesentlichen Mechanismen sind
- erhöhte zerebrale Erregungen,
- Störungen der Kommunikation,
- Ablenkung und
- Schlafstörungen.
Nachdem in den letzten Jahrzehnten methodische Ansätze entwickelt worden waren, die es ermöglichten, die einzelnen Schritte der Informationsverarbeitung isoliert und in Abhängigkeit von realen Geräuschen und einzelnen Schallparametern zu untersuchen, zeigte sich im Gegensatz zu den früheren widersprüchlichen Ergebnissen, dass irrelevante, in keinem inneren Zusammenhang mit der aktuellen Arbeitsaufgabe stehende Geräusche die kognitive Leistung schon im Bereich moderater Pegel beeinträchtigen.
Irrelevanter Schall stört die Enkodierung , die Wahrnehmung und den Transfer exogener Informationen in das Arbeitsgedächtnis. Potenziell davon betroffen sind alle Leistungen, für die akustische Informationen essentiell oder zumindest hilfreich sind, aber durch Störgeräusche maskiert werden. Dies ist umso eher zu erwarten, je mehr sich die Frequenzspektren und die temporalen Strukturen von Informations- und Störschall entsprechen. Behindert ist aber auch die Enkodierung visueller Informationen, also solcher Leistungen, deren Ausführung unabhängig von akustischen Signalen ist.
Die auf bestimmte Objekte oder Vorgänge fokussierte Aufmerksamkeit kann durch Änderungen in der Umwelt, vor allem durch akustische Reize abgelenkt werden und so die Aufnahme auditiver und visueller Informationen stören. Die willentliche Unterdrückung solcher Orientierungsreaktionen erfordert hohe Anspannung und Konzentration, beansprucht also mentale Kapazitäten, die für die weitere Informationsverarbeitung nicht mehr zur Verfügung stehen. Daraus resultieren Beeinträchtigungen von Arbeitsgedächtnisfunktionen und schnellere Ermüdung, ebenso wie Vernachlässigung des peripheren Geschehens mit Überhören bzw. Übersehen von Informationen.
Das Arbeitsgedächtnis besteht aus einer zentralen Steuereinheit sowie einem phonologischen und einem visuell-räumlichen System, in dem aktuelle Informationen kurzzeitig gespeichert und mit nachfolgenden bzw. mit Informationen aus dem Langzeitgedächtnis verknüpft werden. Lärm beeinträchtigt vor allem das phonologische Arbeitsgedächtnis, das auch bei der Verarbeitung schriftlich präsentierten Wortmaterials eine Rolle spielt. Betroffen ist vor allem das serielle Behalten sprachlicher Informationen.
Da das Verstehen gelesener und gehörter Sätze von den kognitiven Grundfunktionen (Enkodierung, Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis) abhängt, beeinträchtigt Lärm auch das Satzverstehen.
Art und Ausmaß der Störungen sind primär durch die temporal-spektrale Struktur der Geräusche determiniert. Relevante akustische Informationen werden umso weniger verstanden, je mehr sich die Frequenzspektren und die Zeitstruktur von Informations- und Störschall entsprechen. Kontinuierlicher Lärm behindert das Sprachverstehen durch Maskierung. Intermittierter, als Folge unterschiedlicher Einzelereignisse wahrgenommener Schall lenkt darüber hinaus die Aufmerksamkeit ab und interferiert mit Arbeitsgedächtnisprozessen. Geräusche mit stark fluktuierenden Frequenzen und Pegeln, wie etwa die Sprache, stören insbesondere Speicherprozesse im phonologischen Arbeitsgedächtnis, deren Ausmaß in einem weiten Bereich von LAeq = 40–95 dB nicht vom Pegel abhängt.
Im Arbeitsleben stört vor allem irrelevantes Hintergrundsprechen und hier vorrangig das serielle Behalten akustisch und verbal präsentierten Wortmaterials und behindert so Lernprozesse und Lesefähigkeit. Der Bedeutungsgehalt der Sprache spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle, da vom Betroffenen nicht beherrschte Fremdsprachen, unsinniges Wortmaterial und rückwärts abgespielte Sprache ähnlich starke Wirkungen hervorrufen. Das Ausmaß der Störung nimmt aber mit zunehmender Anzahl der Sprecher ab.
Multifaktorielle chronische Erkrankungen
Zur Frage klinisch relevanter Gesundheitsstörungen durch Lärm wurden zahlreiche Feldstudien durchgeführt. Lärm ruft in der akuten Situation unspezifische Reaktionen hervor (Beschleunigung der Herzschlagfrequenz, Verengung peripherer Gefäße, mäßige Anhebung des Blutdruckes etc.), die in gleicher Weise auch durch zahlreiche andere Umweltreize sowie durch Emotionen verursacht werden. Deshalb sind, abgesehen von der Lärmschwerhörigkeit, keine monokausal durch Lärm verursachten Erkrankungen zu erwarten. Plausibel ist jedoch die Annahme, dass Lärm zusammen mit vielen anderen ebenfalls unspezifischen Einwirkungen zur Entwicklung von Erkrankungen mit multifaktorieller Genese beiträgt, was in bisherigen Feldstudien jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Für den Umweltbereich, insbesondere für Verkehrsgeräusche, ist ein Beitrag zur Entwicklung von koronaren Herzkrankheiten bzw. von Hypertonien nicht mehr auszuschließen, wenn die Mittelungspegel 65 bzw. 70 dB(A) überschreiten.
Autorin
Prof. em. Dr. med. B. Griefahn
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU DortmundArdeystraße 67 – 44139 Dortmund
Info:
Dieser Beitrag entstammt der folgenden Publikation:
Landau K: Lexikon Arbeitsgestaltung. Best Practice im Arbeitsprozess. Stuttgart: Genter, 2007, S. 765–767