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28. und 29. September in Heidelberg

Fortbildungstagung Sozialmedizin und Sozialrecht: “Heidelberger Gespräch“

Einleitung

Die 29. Wissenschaftliche Fortbildungstagung für Ärzte und Juristen aus den Bereichen Sozialmedizin und Sozialrecht, veranstaltet vom Alfons W. Gentner Verlag, Stuttgart, fand am 28. und 29.09.16 in Heidelberg statt. In der Einführung zur Veranstaltung, die erstmalig in den Räumen des DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) mit bislang durchgehend positivem Feedback stattfand, betonte G. Triebig (Heidelberg/Waibstadt) in bewährter Weise den bisherigen Erfolg der Reihe. Mit ca. 200 Teilnehmenden war die Veranstaltung erneut gut besucht. Der nachfolgende Überblick erfolgt aus der Perspektive des Verfassers ohne inhaltliche Abstimmung mit den Vortragenden, die ja alle eingeladen sind, ihre Beiträge als Texte für Ausgaben der Zeitschrift MedSach in 2017 auszuformulieren.

Flucht, Vertreibung und Medizin – eine medizinhistorische Perspektive

Aktuelle Themen zu „Begutachtung nach Flucht und Migration“ nahmen viel Raum ein. Der Beirat hatte sich in der Vorbereitung bewusst für einen auch historischen Einstieg entschieden. Den bot W. Eckhart (Heidelberg), der bei seiner medizinhistorischen Perspektive zu „Angst, Gewöhnung, Assimilation – Migrationskrisen in der jüngeren deutschen Geschichte und der erlernbare Umgang mit dem ‚Fremden’“ vor allem auf Aspekte der sozialen und kulturellen Konfrontation und Herausforderung im Zusammenhang auch mit alten Migrationsströmen am Beispiel der deutschen Geschichte einging. Die „schwierige Assimilation der ‚Ruhrpolen‘ um 1900“ nahm er ebenso zum Beispiel wie die kriegsbedingten Bevölkerungswanderungen nach 1918 und 1945 (50 – 60 Mio. Menschen) sowie Arbeits- und Fluchtmigrationen in die Nachkriegsrepublik.

Juristische Begriffserklärung – worüber sprechen wir?

Die „Juristische Begriffserklärung – worüber sprechen wir?“ lieferte H. Hoffmann (Bielefeld). Er betonte die jeweils notwendige Fachlichkeit auf seinem wie auch auf medizinischem Gebiet mit Verdeutlichung u. a. zur Frage, wann genau ein „medizinisches Abschiebungshindernis“ vorliegt. So heißt es in § 60 (7) AufenthG zum „Verbot der Abschiebung“ z. B.: „Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.“ Am Beispiel der Versorgung mit Insulin in Vietnam (städtischer oder ländlicher Raum) machte er deutlich, wo die Grenzen ärztlicher „Expertise“ liegen, und er informierte über rechtliche, tatsächliche, subjektive, objektive und zielstaats- wie inlandsbezogene Abschiebungshindernisse wie auch die dazu unterschiedlichen Zuständigkeiten.

Untersuchungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst

Die medizinische Perspektive dazu eröffnete P. Lederer (Erlangen). Speziell zu den Anlässen zu Untersuchungen und Begutachtungen von Migrantinnen und Migranten durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) sind Rechtsvorschriften zu beachten, wie z.B. Ausschluss einer ansteckungsfähigen Tuberkulose (Infektionsschutzgesetz), Untersuchungen zur Aufnahme in einer Gemeinschaftsunterkunft (Asylverfahrensgesetz), Gutachten zur Notwendigkeit medizinischer Leistungen (Asylbewerberleistungsgesetz), Gutachten zur Reisefähigkeit im Rahmen der Aufenthaltsbeendigung (Ausländergesetz), Mitwirkung bei der Organisation der medizinischen Versorgung, Impfungen, Ausbruchsmanagement bei infektiösen Erkrankungen in Gemeinschaftsunterkünften. Bundeseinheitlich ist nur durch das Infektionsschutzgesetz die verpflichtende Untersuchung auf Tuberkulose bei Jugendlichen und Erwachsenen geregelt. Alle anderen Untersuchungsanlässe liegen in der Regelungskompetenz der Länder. Die Frage der Evidenzbasierung des jeweiligen Untersuchungsumfangs stelle sich.

Begutachtung zur Erwerbsfähigkeit und Integration in den Arbeitsmarkt

Die „Begutachtung zur Erwerbsfähigkeit und Integration in den Arbeitsmarkt“ stellte A. Strnad (Nürnberg) vor. Der Ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit (BA) berät und begutachtet auch im Kontext von Migration und Flucht für die Auftraggeber in den Agenturen für Arbeit und für die Jobcenter. Mit der Ankündigung der „Flüchtlingswelle“ stellten sich neue Herausforderungen; bereits in den Jahren vor 2015 gab es allerdings einen kontinuierlich steigenden Anteil an Kundinnen und Kunden mit Migrationshintergrund. Wichtig war aktuell die Unterstützung der Mitarbeitenden durch u.a. eine Liste mit Antworten auf häufige Fragen z. B. zu Traumatisierung, der Notwendigkeit von Impfungen und „Interkulturellen Sensibilisierung“ in der BA. Nach medialen Darstellungen könnte man annehmen, alle geflüchteten Menschen wiesen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf.

PTBS bei Asylbewerbern – aus medizinischer und juristischer Sicht

Tatsächlich ist diese laut Vortrag von E. Richartz-Salzburger (München) eine der am häufigsten genannten psychiatrischen Diagnosen bei Asylsuchenden, wenn es um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder aber um Feststellung inlandsbezogener Abschiebehindernisse geht. Die Diagnose einer PTBS nimmt unter den psychiatrischen Diagnosen eine Sonderstellung ein, da sie entgegen der modernen deskriptiven, syndromgeleiteten Klassifikationsprinzipien eine spezifische Ursache voraussetzt, deren Ermittlung nicht in den medizinischen Aufgabenbereich fällt. Neben der Diagnose einer PTBS dürfen andere häufige Traumafolgestörungen sowie komorbide Erkrankungen nicht übersehen werden. Bei der Untersuchung traumatisierter Asylsuchender sind formale, kulturelle sowie krankheitsimmanente Besonderheiten zu beachten, die die Anamnese- und Befunderhebung erschweren können. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Aussagen zur Glaubhaftigkeit der Angaben traumatisierter Asylbewerber nach aussagepsychologischen Kriterien in diesem Kontext kaum gemacht werden können, obwohl dies der Auftraggeber unter Umständen, zumindest implizit, erwartet. Belastbare Zahlen zur Häufigkeit seien nicht bekannt. Es seien jeweils auch die protektiven Faktoren (wie ein stabiles soziales Umfeld) zu betrachten. Ob eine posttraumatische Belastungsstörung bei Asylbewerbern vorliegt, beurteilt sich insbesondere aus medizinischer Sicht. Ob es aus juristischer Sicht bei der Begutachtung Besonderheiten bei Asylbewerbern gibt, wurde aus sozialrichterlicher Sicht (S. Bultmann, Hamburg) dargelegt. Viele Asylbewerber werden legal oder illegal in Deutschland beschäftigt und können dabei einen Arbeitsunfall erleiden. Auch hierbei kann es in der Folge zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen und es können gegebenenfalls – auch bei sog. „Arbeitsgelegenheiten“ – Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung realisiert werden.

Begutachtung von unbegleiteten Minderjährigen aus medizinischer und juristischer Sicht

Als besondere Personengruppe ging es – ebenfalls aus medizinischer (T.M. Eckstein, Heidelberg) und juristischer Sicht (G. Kirchhoff, Wolfenbüttel) – um die Begutachtung von unbegleiteten Minderjährigen. Beide Referenten betonten die Möglichkeiten und Grenzen der „Erkenntnisse“ insbesondere im Zusammenhang mit der Altersbestimmung. Eckstein betonte, dass psychische und physische Traumata nicht zu den „häufigsten festgestellten Auffälligkeiten“ gehörten. Juristisch sei die Inobhutnahme für Minderjährige vorgesehen; wenn objektiv Volljährige auf freiwilliger Basis dort seien, stelle das weniger im engeren Sinn ein rechtliches Problem dar. Nach „qualifizierter Inaugenscheinnahme“ z. B. durch Sozialarbeiter erfolge wohl nicht regelmäßig eine ärztliche Begutachtung. Für die rechtliche Betrachtung spielt eine Rolle, dass die Inobhutnahme keine Sozialleistung darstellt und aktuell auch eine vorläufige Inobhutnahme in Betracht kommt. Nach abschlägigem Asylverfahren steht für die zuständigen Ausländerbehörden grundsätzlich die Prüfung an, ob die Betroffenen in ihr Herkunftsland oder evtl. ein anderes sicheres Land ausreisepflichtig gemacht werden können.

Begutachtung der Reise- und Abschiebefähigkeit – aus medizinischer Sicht

Kommen die Betroffenen einer entsprechenden Aufforderung nicht nach, steht in der Regel ein Anschlussverfahren zur Durchsetzung einer Ausreise (Abschiebung) an. Dazu betonte R. Lange (Mettmann) aus medizinischer Sicht, dass es sich bei Fragen zur „Abschiebefähigkeit“ im amtsärztlichen Gutachterdienst primär um Begutachtung der nicht exakt definierten Reisefähigkeit handelt. Soweit darunter eine reine Transportfähigkeit verstanden wird, ist eine solche in aller Regel gegeben bzw. wäre in problematischeren Fällen unter Inanspruchnahme moderner medizinisch-technischer Rahmenbedingungen herstellbar. Tatsächlich geht es jedoch vielmehr um weitergreifende gesundheitliche Beeinträchtigungen, die durch das Verfahren einer Abschiebung ausgelöst oder auch nachhaltig verschlimmert werden könnten. Auch hier liegt die Entscheidung nicht im ärztlichen Bereich, sondern bei der zuständigen Ausländerbehörde. Aufgabe des amtsärztlichen Gutachtens ist es daher, die zu berücksichtigenden gesundheitlichen Besonderheiten, die sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen und Risiken sowie mögliche Schutz- oder Abhilfemaßnahmen aufzuzeigen.

Begutachtung der Reise- und Abschiebefähigkeit – aus juristischer Sicht

Aus juristischer Sicht ergänzte C. Hirte-Piel (Bielefeld) noch ausführlicher, wenn sich unmittelbar durch die Abschiebung oder als deren unmittelbare Folge der Gesundheitszustand voraussichtlich wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtert, sei Reiseunfähigkeit anzunehmen. Nach aktueller Rechtslage wird allerdings grundsätzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nur noch äußerst gravierende Erkrankungen stellen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben dar. Macht der Ausreisepflichtige eine der Abschiebung entgegenstehende Erkrankung geltend, muss er dieses durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügt, geltend machen. Eine Ausnahme gilt für den Fall, dass der Ausreisepflichtige unverschuldet an der Einholung der ärztlichen Bescheinigung gehindert war oder anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer die Reiseunfähigkeit begründenden schweren Erkrankung vorliegen. Die Übernahme der gesundheitlichen Versorgung Asylsuchender durch die Gesetzliche Krankenversicherung ist nicht nur für die Betroffenen wichtig, sondern auch im Zusammenhang mit der sozialmedizinischen Begutachtung.

Die Übernahme der gesundheitlichen Versorgung Asylsuchender durch die gesetzliche Krankenversicherung

A. Kremp (Berlin) betonte, dass Asylsuchende, Flüchtlinge und andere durch das Ausländerrecht definierte Personenkreise grundsätzlich nicht gesetzlich krankenversichert seien, sondern im Krankheitsfall Ansprüche nach dem AsylbLG bestehen. Dieser Anspruch umfasst, verkürzt dargestellt, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche (zahn-)ärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln. Medizinisch gebotene Vorsorgeuntersuchungen sind ebenso vorgesehen wie bestimmte Schutzimpfungen. Die gesetzlichen Vorgaben sind aber auslegungsbedürftig. Zuständig für die Umsetzung dieses Leistungsanspruchs sind die Länder bzw. die von ihnen per Landesgesetz bestimmten Behörden. Innerhalb der ersten 15 Monate des Aufenthalts in Deutschland (sog. Wartezeit) wird bzw. wurde dies zumeist über die Ausgabe so genannter Behandlungsscheine durch die Sozialämter sichergestellt. Die Leistungsgewährung wird demnach in das Ermessen der kommunalen Leistungsträger gestellt. Nach der Wartezeit werden die Asylsuchenden gemäß § 264 Abs. 2 SGB V auftragsweise von den Krankenkassen betreut. Von der Möglichkeit einer auftragsweisen Betreuung durch die Krankenkassen auch innerhalb der Wartezeit machten die Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz Gebrauch.

Psychiater und Psychologe – wer begutachtet was?“ – Einführung aus fachspychiatrischer Sicht

Aus verschiedenen Perspektiven erfolgten Versuche zur Klärung der Frage „Psychiater und Psychologe – wer begutachtet was?“. G. Lotz-Metz (Frankfurt/Main) führte ein aus fachpsychiatrischer Sicht und betonte, dass die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den Berufsgruppen nicht eindeutig wissenschaftlich belegt sei, wobei die Apparatetechnik und die körperliche Untersuchung sowie die Erhebung des psychopathologischen Befunds die Domäne des Arztes bzw. des ärztlichen Psychotherapeuten sind. Die Durchführung von beispielsweise Beschwerdevalidierungstests ist eher das Arbeitsgebiet des Psychologen. In spezifischen Begutachtungskonstellationen würde eine enge Vernetzung beider Berufsgruppen zu umfassenderen und prognostisch fundierteren Aussagen führen. Die Aussagen zur Prognose und weiterer Therapiebedürftigkeit seien Aufgaben des Arztes.

Einführung aus fachpsychologischer Sicht

Aus fachpsychologischer Sicht hatte G. Krahl (Frankfurt/Main) überblicksartig Kernelemente einer psychologischen Begutachtung darstellen wollen; er wurde vertreten durch J. Klöfer (Mannheim) mit Hinweisen auf die klinische Ausbildung des Psychologischen Psychotherapeuten, Gütekriterien psychologischer Messmethoden und die „Testungsnotwendigkeit“, die sich aus AWMF-Leitlinien ergebe.

Sicht des psychologischen Psychotherapeuten

Herbert König (Würzburg) vertrat die Sicht der psychologischen Psychotherapeuten und diskutierte anhand ausgewählter Situationen aus dem psychotherapeutischen Alltag die Bedeutung von Begutachtungen meist im sozial- oder zivilrechtlichen Kontext für die behandelten Patientinnen und deren Einfluss auf die therapeutische Beziehung (Aufnahme, die Gestaltung oder gar Fortbestand einer Psychotherapie).

Sicht des Neuropsychologen

Ergänzt wurde das Thema aus neuropsychologischer Perspektive (A. Diebel, Berlin) mit einem Schwerpunkt zu Auswirkungen von Hirnschädigungen; im Rahmen verschiedener Rechtsgebiete der sozialen Sicherungssysteme gilt es, Art und Ausmaß von Hirnfunktionsstörungen sowie möglichen sekundären psychischen Störungen infolge von Erkrankungen oder Verletzungen des Zentralnervensystems zu bestimmen. Fragestellungen beziehen sich auf die krankheits- bzw. unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit, den Invaliditätsgrad, den Grad der Behinderung bzw. der Schädigungsfolgen oder die beamtenrechtliche Dienstunfähigkeit. Die Ableitung der Auswirkungen von kognitiven und affektiven Störungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit, die allgemeine Lebensführung sowie die Aktivität und Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen erfolgt nach differenzierter neuropsychologischer Untersuchung mittels auf den Einzelfall abgestimmter, ausgewählter diagnostischer Instrumentarien. Anhand von Kasuistiken zu verschiedenen Rechtsgebieten wurde die Aussagekraft neuropsychologischer Gutachten im interdisziplinären Kontext verdeutlicht.

Neuregelungen in der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit

Die Neuregelungen in der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit wurden aus juristischer Sicht (T. Bartels, Hamburg) und aus der Perspektive der Leitung des Fachbereichs Pflege-Begutachtung (A. Kaden, Dresden) beleuchtet. Durch das neu entwickelte Begutachtungsinstrument wird Pflegebedürftigkeit anders als bisher ermittelt. Geändert haben sich z. B. die Sichtweise (Blick auf den Grad der vorhandenen Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung der in § 14 Abs. 2 SGB XI [Geltungszeitraum: ab 01.01.2017] genannten sechs Bereiche statt defizitorientiert auf den Hilfebedarf der in § 14 Abs. 4 Nr. 1–3 SGB XI [Geltungszeitraum: bis zum 31.12.2016] geregelten Verrichtungen) und der Differenzierungsgrad wie auch pflegefachliche Fundierung. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsinstrument stehen in einem untrennbaren fachlichen Zusammenhang. Im Fokus des neuen Begutachtungsverfahrens steht nicht mehr der Zeitaufwand des Hilfebedarfs, sondern der Grad an Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen und die damit verbundene Notwendigkeit von personeller Unterstützung durch andere.

Aktuelles in der Begutachtung im Beamtenrecht

Einstellungen, Dienstfähigkeit, Prognose – aus juristischer und medizinischer Sicht: F. Schulze (Münster/Westfalen) leitete aus juristischer Sicht ein zu „Aktuelles in der Begutachtung im Beamtenrecht“ mit einem Schwerpunkt zu „Einstellung, Dienstfähigkeit, Prognose“. Solange der Gesetzgeber keinen kürzeren Prognosezeitraum festlegt, könne der Dienstherr die gesundheitliche Eignung aktuell dienstfähiger Bewerber nur verneinen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze keine Dienstunfähigkeit eintreten wird (BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013 – 2 C 12/11 – Rn 16). Diese neuere Rechtsprechung hat im Hinblick auf den Maßstab (früher: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, jetzt: mit überwiegender Wahrscheinlichkeit) Klarheit gebracht. Allerdings ergeben sich jetzt neue Probleme, die in der Rechtsprechung bisher nicht geklärt sind, so zum Begriff der Dienstunfähigkeit. Die Rechtsprechung wird sich somit in Zukunft auch mit der Frage zu beschäftigen haben, ob eine gesundheitliche Eignung eines Bewerbers auch dann – noch – gegeben ist, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass er bis zum Erreichen der Altersgrenze zumindest noch auf einigen – wenigen – Dienstposten seiner Laufbahn eingesetzt werden kann. Eine Prognose zur Dienstfähigkeit im bestehenden Beamtenverhältnis ist im Rahmen von Verfahren auf Versetzung in den Ruhestand zu stellen. Diese kommt nur in Betracht, wenn der Beamte „dauernd“ zur Erfüllung seiner Dienstpflichten nicht mehr in der Lage ist. Es ist daher vom Dienstherrn zu prognostizieren, ob ein erkrankter Beamter z.B. innerhalb einer vom Landesgesetzgeber vorgegebenen Frist (in NRW: 6 Monate) wieder dienstfähig werden wird.

Ergänzend wies D. Meissner (Schwerin) aus medizinischer Sicht auf den im Juli 2013 eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Einstellungsbegutachtung hin. Bisher galt, dass die gesundheitliche Eignung bereits dann fehlte, wenn die Möglichkeit häufiger Erkrankungen oder des Eintritts dauernder Dienstunfähigkeit vor Erreichen der Altersgrenze nicht mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden konnte. Jetzt sind Beamtenbewerber, deren Leistungsfähigkeit aktuell nicht eingeschränkt ist, gesundheitlich als Beamte nur dann nicht geeignet, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass eine vorzeitige Pensionierung vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze überwiegend wahrscheinlich ist. Damit können nur noch Krankheitsbilder zur gesundheitlichen Nichteignung führen, bei denen medizinisch-wissenschaftlich belegt ist, dass die bestehende Krankheit in mehr als 50% der Fälle zu vorzeitigem Eintritt der Dienstunfähigkeit oder (weit) überdurchschnittlich häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten führt. Gingen bisher Zweifel zu Lasten des Bewerbers, gehen sie nun zu Lasten des Dienstherrn.

Beihilfefragen

Zu „Beihilfefragen“ ergänzte R. Lange (Mettmann). Insbesondere in den Flächenländern sind dabei in der Regel die örtlichen Gesundheitsämter und deren amtsärztliche Dienste die zur Bearbeitung bei Unklarheiten vorgesehenen Stellen. Die rasante Entwicklung in der Medizin, verbunden mit den hohen Erwartungen der Patienten an eine optimale Versorgung im Krankheitsfall, ist jedoch mit einer zunehmenden Komplexität der fachlichen Fragestellungen verbunden. Dies betrifft beispielsweise die problematische Anwendung des ärztlichen Gebührenrechts. Ebenso stellen sich aber auch vermehrt Fragen zu kurativmedizinischen Maßnahmen, die aus der wissenschaftlicher Forschung oder empirischer Erfahrung heraus zur Anwendung kommen sollen, jedoch noch nicht eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung gefunden haben.

    Autor

    Dr. med. Andreas Bahemann

    Bundesagentur für Arbeit

    Zentrale

    Regensburger Str. 104

    90478 Nürnberg

    Andreas.Bahemann@arbeitsagentur.de

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    Das nächste „Heidelberger Gespräch“ findet am 14. und 15. September 2017 im DKFZ in Heidelberg statt.

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