Florian Steger und Carolin Wiethoff
Einleitung
Medizin und Arbeitswelt waren in der DDR eng verbunden. Das stark ausgebaute betriebliche Gesundheitswesen stellte eine wichtige Säule der ambulanten medizinischen Versorgung der SED-Diktatur dar [1]. Schon in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war infolge des Befehls Nr. 234 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) [2] mit dem Aufbau eines betrieblichen Gesundheitswesens begonnen worden. Dieses war staatlich und die behandelnden Ärzte nahmen nicht nur präventive, sondern auch kurative Aufgaben wahr. Erst in jüngerer Zeit wurde dieser wichtige Bereich des DDR-Gesundheitswesens unter speziellen Fragestellungen wie der Gesundheitsprophylaxe oder der beruflichen Rehabilitation auf lokaler Ebene untersucht [3]. Neuere wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte der Medizin in der DDR zeigen, dass Akteure einer politisierten Medizin staatliche Vorgaben durch ihr eigenes Handeln entscheidend prägten [4]. Diese Ergebnisse werfen die Frage danach auf, wie politisiert das Betriebsgesundheitswesen der DDR war.
In unserem Forschungsprojekt wurde am Beispiel des Bezirks Magdeburg untersucht, wie sich Anspruch und Wirklichkeit unterschieden, wie politische Zielsetzungen im Betriebsgesundheitswesen umgesetzt wurden und welchen Einfluss das Ministerium für Staatssicherheit auf diesen Bereich ausübte. Hierfür wurden schriftliche Quellen aus dem Landesarchiv Sachsen-Anhalt, dem Bundesarchiv und den Beständen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ausgewertet. Die aus den Quellen gewonnenen Erkenntnisse wurden durch Zeitzeugengespräche nach der Methode der „oral history“ ergänzt.
Ergebnisse
Betriebsärzte nahmen präventive und kurative Aufgaben wahr. Sie verfügten damit über die Möglichkeit, Gesundheitsgefahren schnell zu erkennen und Beschäftigte in ihrem unmittelbaren Umfeld zu behandeln [5]. Zunehmend wurden die betrieblichen Gesundheitseinrichtungen im Bezirk Magdeburg zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung außerhalb der Betriebe herangezogen. Dies hing vor allem mit dem Ärztemangel im Bezirk Magdeburg zusammen. So setzten die Magdeburger Betriebspolikliniken 1971 die Hälfte ihrer Leistungen für „Aufgaben des territorialen Gesundheitswesens“ [6] ein. Die Überfrachtung des Betriebsgesundheitswesens mit zusätzlichen Aufgaben hatte zur Folge, dass präventive Aufgaben vernachlässigt wurden und Betriebsärzte Überlastungen beklagten. Beschwerden engagierter Betriebsärzte aus den 1950er Jahren dokumentieren die katastrophalen Arbeitsbedingungen in einigen Betrieben des Bezirks, so beispielsweise in den Eisenwerken West in Calbe (Saale). Die Arbeitssanitätsinspektion, die im Bezirk 1954 entstanden war und die arbeitshygienische Situation in den Betrieben kontrollierte, kam zu dem Schluss, dass zur Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen oft die Mittel fehlten oder diese sogar von höherer Seite gestrichen wurden. In den 1960er Jahren sind Schließungen von Betrieben durch die Arbeitssanitätsinspektion dokumentiert, die sich zudem für die Errichtung neuer Anlagen bei Betrieben einsetzte. Hierdurch konnten auch die Arbeitsbedingungen verbessert werden. In den 1970er und 1980er Jahren fiel der arbeitsmedizinischen Betreuung hingegen häufiger die Funktion zu, fehlende Sanierungsmaßnahmen zu kompensieren. Im Vordergrund stand die Planerfüllung. Dies führte dazu, dass Beschäftigte aufgrund der Arbeitsbedingungen geschädigt wurden, so beispielsweise im VEB Erdöl/Erdgas Salzwedel [7]. Anstelle von Sanierungsmaßnahmen wurden Ausnahmegenehmigungen für die Produktion erlassen, die mit gesundheitlichen Konsequenzen für die Beschäftigten einhergingen. 1984 bestanden für 31 DDR-Betriebe mit schweren Gesundheitsgefahren derartige Ausnahmegenehmigungen.
Aufgrund der Tatsache, dass das Betriebsgesundheitswesen verstaatlicht war, konnten politische Zielsetzungen in diesem Bereich verstärkt umgesetzt werden. Ein erklärtes Ziel der SED-Führung war die Senkung des Krankenstands, die 1962 in einem eigenen Ministerratsbeschluss festgeschrieben wurde [8]. Bereits Anfang der 1950er Jahre waren so genannte Ärzteberatungskommissionen [9] in der DDR und im Bezirk Magdeburg eingeführt worden, mit denen offiziell eine Verbesserung der Behandlung erreicht werden sollte. Diese dienten aber vorrangig der Kontrolle erkrankter Beschäftigter und auch der krankschreibenden Ärzte, um das „Bummelantentum“ [10] einzuschränken. Das Betriebsgesundheitswesen nahm hier anfänglich sogar eine Modellfunktion ein: Die in einer der Magdeburger Betriebspolikliniken entwickelte „straffe Vorladung“ [11] vor diese Kommissionen wurde auf andere Betriebspolikliniken und kommunale Gesundheitseinrichtungen übertragen. Betriebsärzte wurden zudem gesetzlich dazu verpflichtet, auf den Krankenstand Einfluss zu nehmen [12]. Der Einfluss der Politik auf die Medizin hatte Konsequenzen. So zeigt sich anhand von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit, dass die freie Arztwahl für bestimmte Gruppen, wie ausländische Arbeitskräfte, aus politischen Gründen eingeschränkt wurde.
Im Bezirk Magdeburg lässt sich schon frühzeitig eine Überwachung des Gesundheitswesens durch das Ministerium für Staatssicherheit ausmachen, insbesondere nach dem 17. Juni 1953. In den 1970er Jahren forcierte das MfS die Überwachung des Gesundheitswesens. 1976 waren im Bezirk insgesamt 80 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) im Gesundheitswesen registriert. Das Ministerium für Staatssicherheit verfolgte auch das Ziel, im Betriebsgesundheitswesen einen Einblick in die bestehenden Strukturen und deren Veränderungen zu erhalten sowie Schwerpunktbetriebe zu kontrollieren. Zum Teil wurden Ärzte gezielt aufgrund ihrer Tätigkeit in betrieblichen Gesundheitseinrichtungen als Inoffizielle Mitarbeiter angeworben. In anderen Fällen bestand bereits ein offizieller Kontakt, der zu einer inoffiziellen Mitarbeit ausgebaut wurde. Betriebsärzte waren aufgrund ihrer Schnittstelle zwischen Betrieb und Gesundheitswesen in der Lage, eine ganze Bandbreite von Aufgaben für die Staatssicherheit zu übernehmen. Hierzu gehörten zum Beispiel die Einstellung von politisch zuverlässigen Ärzten, die Kontrolle von Mitarbeitern und Kollegen sowie die Mitwirkung in „Operativen Personenkontrollen“ und „Operativen Vorgängen“. Die Berichterstattung konzentrierte sich im Wesentlichen auf Personen-, Sach-, Reise- und Stimmungsberichte. Ärzte übernahmen auch „operative Aufgaben“ wie die Beschaffung von Blanko-Krankenscheinen, Schlüsseln, Stempeln und Patientenakten. Dabei wurde auch die in der DDR geltende ärztliche Schweigepflicht gebrochen, indem Betriebsärzte Informationen über Patienten an das MfS weitergaben. Hierzu gehörten nicht nur Informationen über Erkrankungen und deren Hintergründe, sondern auch über persönliche Belange von Patienten. So berichtete beispielsweise ein von der Staatssicherheit als IM erfasster Betriebsarzt, dass ein Beschäftigter des Betriebs, den er betreute, Suizidabsichten geäußert habe. Er führte dies auf private Probleme zurück und verwies auf „häufig wechselnde Männerbekanntschaften“ [13] der Ehefrau des Betroffenen. Ferner gehörten zu den Personenberichten Berichte über leitende Kader im Betrieb und ausländische Arbeitskräfte. Das MfS war vor allem an der Frage „Wer ist wer?“ im Gesundheitswesen interessiert [14], weshalb auch die untersuchten Betriebsärzte-IM überwiegend über andere Ärzte berichteten. Sachberichte betrafen häufig die medizinische Versorgung im Betrieb und im Kreis, aber auch innerbetriebliche Belange, beispielsweise die Planerfüllung.
Fazit
Unser Blick auf die Geschichte des Bezirkes Magdeburg hat gezeigt, dass sich Anspruch und Wirklichkeit im Bereich des Betriebsgesundheitswesens und der Arbeitsmedizin der DDR unterschieden. Hier sind weitere Forschungen und auch Vergleiche zu anderen Bezirken notwendig, um ein umfassendes Bild zu erhalten. Das gilt auch für die Frage nach der Inanspruchnahme des Betriebsgesundheitswesens für politische Zielstellungen der SED-Diktatur. Hierfür lassen sich im Bezirk insbesondere für die 1950er und 1960er Jahre Belege finden. Auch in diesem Bereich des DDR-Gesundheitswesens prägten Akteure staatliche Vorgaben durch ihr eigenes Handeln, so bei der Kontrolle erkrankter Beschäftigter. Zudem warb das Ministerium für Staatssicherheit Betriebsärzte im Bezirk Magdeburg als Inoffizielle Mitarbeiter an und kontrollierte so die Gesundheitseinrichtungen wichtiger Betriebe. Aufgrund ihrer Funktion an der Schnittstelle zwischen Betrieb und Gesundheitswesen waren Betriebsärzte für das MfS interessant, da sie über beide Bereiche Informationen liefern konnten. Betriebsärzte aus dem Bezirk Magdeburg, die als IM ihre Schweigepflicht brachen und „operative“ Aufgaben übernahmen, konnten nach der politischen Wende als niedergelassene Ärzte weiter praktizieren. Eine umfassende Aufarbeitung des Betriebsgesundheitswesen und der Arbeitsmedizin in der gesamten DDR bleibt somit aufgrund der gesellschaftspolitischen Relevanz weiterhin ein wichtiges Forschungsdesiderat.
Quellen
[1] Winfried Süß: Gesundheitspolitik. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 76). München 1998, S. 55–100, hier S. 77.
[2] Befehl Nr. 234 über Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten der Industrie und des Verkehrswesens vom 9.10.1947, ZVOBl. 1948, S. 1–6.
[3] Jenny Linek: Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 59). Stuttgart 2016. Carolin Wiethoff: Arbeit vor Rente. Soziale Sicherung bei Invalidität und berufliche Rehabilitation in der DDR (1949–1989) (Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert 5). Berlin 2017.
[4] Florian Steger, Maximilian Schochow: Disziplinierung durch Medizin. Die geschlossene Venerologische Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961–1982 (Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Sonderband). Halle (Saale) 2014. Florian Steger, Maximilian Schochow: Traumatisierung durch politisierte Medizin. Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR. Berlin 2016. Florian Steger, Carolin Wiethoff, Maximilian Schochow: Vertuschter Skandal. Die kontaminierte Anti-D-Prophylaxe in der DDR 1978/1979 und ihre Folgen. Halle (Saale) 2017.
[5] Gine Elsner: Das Betriebsgesundheitswesen und die Arbeitsmedizin in der DDR. Ein Gutachten. Düsseldorf 1990, S. 108f.
[6] LASA, M 1, Nr. 5267. Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen (Bezirksarzt), Bericht über den Stand der Durchsetzung des Bezirkstagsbeschlusses 106–22 (V)/71 „zur weiteren gesundheitlichen Betreuung der Bürger des Bezirkes“ (…), 27.8.1971, Bl. 233–240, hier Bl. 237.
[7] Hermann Bubke: Studie zur Kontamination von Arbeitnehmern mit Quecksilber bei der Erdgasförderung in der Altmark. Berlin 2010.
[8] Jürgen Wasem, Doris Mill, Jürgen Wilhelm: Gesundheitswesen und Sicherheit bei Krankheit und im Pflegefall. In: Christoph Kleßmann (Hg.): 1961–1971. Deutsche Demokratische Republik. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 9). Baden-Baden 2006, S. 379–428, hier S. 392f.
[9] Anordnung über die Organisation und Aufgaben der Ärzteberatungskommissionen und Verbesserung der ärztlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vom 3.6.1953, Gesetzblatt der DDR. Teil II. Nr. 21. Berlin 1953, S. 268–270.
[10] LASA, M 1, Nr. 4114. Protokoll über die am Donnerstag, den 28. Oktober 1954 stattgefundene Kreisärztetagung, o. D., Bl. 97–102, hier Bl. 99.
[11] LASA, M 1, Nr. 4089. Gesundheits- und Sozialwesen, Bezirksarzt – Ratsmitglied, an Regierung der DDR, Ministerium für Gesundheitswesen, z.Hd. d. Herrn Ministers für Gesundheitswesen Max Sefrin, Stellv. d. Ministerpräsidenten, Betr.: Bericht für die Bezirksärztetagung am 19./20.12.1961, 6.12.1961, Bl. 86–92, hier Bl. 88.
[12] Verordnung über das Betriebsgesundheitswesen und die Arbeitshygieneinspektion vom 11. Januar 1978. In: Gesetzblatt der DDR. Teil I. Nr. 4. Berlin 1978, S. 61–66.
[13] BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wolmirstedt, Nr. 91, Teil II, Bd. 1, Abschrift, angen. 11.8.1982, Bl. 117.
[14] Francesca Weil: Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Berichte und Studien, 54). Göttingen 2008, S. 36.
Fußnoten
* Es handelte sich um die Ergebnisse eines von der Stiftung Arbeitsmedizin und Prävention geförderten wissenschaftlichen Forschungsprojektes am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Wir danken der Stiftung sehr für die großzügige Förderung.
Bibliografische Angaben
Florian Steger und Carolin Wiethoff
Betriebsgesundheitswesen und Arbeitsmedizin im Bezirk Magdeburg
Sonderband in der Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), Mitteldeutscher Verlag 2018, 200 Seiten,
ISBN: 978-3-95462-946-6; Preis: 16,– Euro
www.mitteldeutscherverlag.de/geschichte/landesgeschichte/steger,-f-wiethoff,-c-betriebsgesundheitswesen-und-arbeitsmedizin-im-bezirk-magdeburg-detail
Kontakt
Univ.-Prof. Dr. Florian Steger
Direktor des instituts für Geschchte, Theorie und Ethik der Medizin
Universität Ulm
Parkstraße 11
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