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Lärmschwerhörigkeit in der Landwirtschaft

Lärmschwerhörigkeit in der Landwirtschaft

Die Sozialversicherung Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ (SVLFG) ist seit dem 01.01.2013 für alle im Agrarsektor Tätigen auch im Bereich der Berufskrankheiten zuständig. Eine rentenberechtigte MdE wird in der SVLFG erst mit 30 % erreicht. Die Beurteilung der Lärmschwerhörigkeit weist in diesem Sektor nicht nur deswegen Besonderheiten auf. Zu nennen sind längere Lebensarbeitszeiten auch weit über das 70ste Lebensjahr hinaus, wechselnde und sehr hohe Lärmbelastungen und häufig zusätzlicher Impulslärm durch Jagdausübung. Dadurch ist die Berechnung der Lärmdosis über die Gesamtlebenszeit erschwert.

Schlüsselwörter: Lärmschwerhörigkeit – Agrarwirtschaft – Berufskrankheit

Noise induced hearing loss in farming

The Social Insurance for Agriculture, Forestry and Horticulture (Sozialversicherung Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau – SVLFG) has been responsible for all workers and employees in the agricultural sector since 01.01.2013 and occupational diseases are part of its remit. There are several peculiarities to take into account. In the SVLFG a pension-eligible reduction in earning capacity is not reached until 30 %. This is not the only reason why the assessment of noise induced hearing loss has its own distinctive features in this sector. Other reasons are longer working lives well past the age of 70, changing and very high noise levels and frequent additional impulse noise as a result of hunting. This makes it harder to calculate the noise dose over a whole lifetime.

Keywords: noise induced hearing loss – agricultural sector – occupational disease

O. Michel1,2

T. Brusis2

(eingegangen am 13. 05. 2015, angenommen am 08. 07. 2015)

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 50: 592–597

Landwirtschaft, Forst und Gartenbau

Zum 01.01.2013 wurden im Rahmen der Reform der Sozialversicherungen alle 8 regionalen Landwirtschaftsversicherungsträger, die ehemalige selbstständige Berufsgenossenschaft für Gartenbau und der Spitzenverband der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV) zu einer bundesunmittelbaren Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung – der „Sozialversicherung Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ (SVLFG) – zusammengefasst. In der SVLFG sind damit auch alle landwirtschaftlichen Alterskassen, Kranken- und Pflegekassen aufgegangen.

Die SVLFG nimmt damit eine Sonderstellung ein und gehört nicht zum Dachverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), weil sie nicht nur für Unfälle, sondern auch in einer Hand für landwirtschaftliche Alterssicherung, Kranken- und Pflegeversicherung zuständig ist. Sie wird durch Bundesmittel aus dem Agrarhaushalt sowie über die Beiträge der Unternehmer, die nach dem Umlageprinzip erhoben werden, finanziert.

Eine Pflichtzugehörigkeit ergibt sich für alle in die Zuständig-keit der SVLFG fallenden Haupt-, Zuerwerbs- und Nebenerwerbslandwirte sowie deren Ehegatten und mitarbeitende Familienangehörige. Dadurch besteht auch eine Pflichtversicherung in der SVLFG eigenen landwirtschaftlichen Krankenkasse und der berufsständischen gesetzlichen Alterssicherung.

In die Zuständigkeit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung fällt man auch, wenn man Jäger mit eigener Pacht, gewerblicher Tierhalter, Imker, Fischzüchter, Wanderschäfer, Flussfischer, Gesellschafter einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, Ehepartner, Familienangehöriger und Arbeitnehmer des Betriebs ist oder ohne Gewinnabsicht als Land- oder Forstwirt tätig ist. Dabei ist es völlig unerheblich, ob noch ein anderer Beruf ausgeübt wird.

Grundsätzlich erhalten Versicherte Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge eines oder mehrerer Versicherungsfälle über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus um wenigstens 20 % gemindert ist. Bei mehreren Versicherungsfällen müssen deren Prozentsätze in der Summe wenigstens die Zahl 20 erreichen.

Eine Besonderheit ergibt sich in der SVLFG dadurch, dass eine Verletztenrente erst dann gewährt wird, wenn eine MdE von wenigstens 30 % anerkannt wird. Die Verletztenrente ab einer MdE von 20 % gilt jedoch, wie bei den anderen Unfallversicherungsträgern üblich, bei Arbeitnehmern in der Landwirtschaft (Knechte und Mägde). Der Stützrententatbestand nach SGBVII gilt in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung unverändert.

Lärmeinwirkung

Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 12534 Verdachtsfälle von Lärm-schwerhörigkeit gemeldet. Mit davon 6935 anerkannten Fällen war sie die häufigste Berufskrankheit (BAuA 2014). In den Agrarberufen hat die durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit eine ebenfalls hohe Anerkennungsquote, da sich bei verschiedenen Tätigkeitsbereichen ein hohes Gefährdungspotential ergibt (Brusis u. Michel 2013).

Die größte Lärmexposition wird in der Regel in vier Bereichen – Ackerbau, Viehzucht, Forstwirtschaft und Jagd – erreicht, die auch bei der Arbeitsplatzanalyse des Technischen Auskunftsdiensts unter-schieden werden.

  • Im Ackerbau ist es die Lärmeinwirkung durch Ackerschlepper bzw. Traktoren und weitere landwirtschaftliche Maschinen wie Mähdrescher und Zerkleinerer für Viehfutter. Ältere Ackerschlepper sind deutlich lauter als die Schleppmaschinen von heute mit schallgedämmter und klimatisierter Kabine, in der die Stereoanlage noch die lauteste Lärmquelle darstellt und der Fahrer die Fenster nicht mehr öffnet. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, wie lange Ackerschlepper ältester Bauart noch ihren Dienst tun. Diese haben in der Regel eine wesentlich höhere Lärmemission.
  • Die Dauer der Lärmeinwirkung wird nicht anhand eines Fahr-tenbuches, sondern als so genannte Schlepper-Einsatzzeit nach der Flächengröße des Betriebes berechnet. Bei einer bewirtschafteten Fläche von z. B. 16 ha ergibt sich eine jährliche Schlepper-Einsatzzeit von ungefähr 22 h/ha, dies entspricht 7 h/Woche. Für jeden Schlepper wird der Lärmexpositionspegel LEX,40h einzeln berechnet. Die Gesamtexposition wird mit dem Lärmexpositionsrechner der IFA (Institut für Arbeitsschutz der Ge-setzlichen Unfallversicherung) unter Berücksichtigung der Zeitanteile vorgenommen.
  • In der Viehzucht gilt als Hauptlärmquelle das Schweinequieken bei Haltung von Schweinen. Bei der Fütterung werden in der Regel Beurteilungspegel von 94–98 dB(A) gemessen (Auskunft des Technischen Auskunftsdiensts der SVLFG). Nach der Daten-bank der DGUV liegen die gemessenen Dauerschallpegel eher mit dem arithmetischen Mittelwert bei LAeq = 87,1 dB(A), der sich aus den gemessenen energieäquivalenten Dauerschallpegeln LAeq zwischen 81 und 94,4 dB(A) ergibt.
  • Bei den Unterschieden ist zu berücksichtigen, dass diese Lärm-pegel nur während der Fütterung entstehen können bzw. genauer gesagt, wenn die Schweine erkennen, dass die Fütterung beginnt. Auch kann das Verhalten der Tiere von Fütterung zu Fütterung schwanken, was die unterschiedlichen Pegelwerte erklärt.
  • Der Landwirt ist wegen der hohen Pegelwerte nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArb-SchV) von 2007 verpflichtet, Kapselgehörschutz bei der Massen-tierhaltung bzw. Ferkelaufzucht zur Fleischgewinnung zu tragen. Beim eigentlichen Fressvorgang und ebenso bei der Sauenzucht zur Vermehrung von Ferkeln treten geringere Lärmemissionen auf. Durch Umstellung auf automatische maschinelle Fütterung wird in der Regel eine gehörschädigende Lärmeinwirkung verhindert.
  • In der Forstwirtschaft stellen überwiegend Motorsägen bei der Holzernte (110 dB(A)), aber auch Freischneider, Winkelschleifer, Laubbläser etc. die Hauptlärmquelle dar. Zwar ist das Tragen von Kapselgehörschutz bei dergleichen Arbeiten Pflicht, doch häufig berichten die Versicherten bei der gutachterlichen Untersuchung unverblümt, dass sie den Gehörschutz nur halbherzig tragen. Die Gründe, die hierfür angeführt werden, sind meistens die Wärme-bildung und das Schwitzen unter den Kapseln sowie die Besorgnis der Betroffenen, eventuelle Warnrufe oder -signale nicht mitzubekommen. Es muss daher bei der gutachterlichen Bewertung davon ausgegangen werden, dass kein durchgehender persönlicher Schutz vorlag (Brusis 2006). Der Versicherungsschutz erlischt dadurch nicht. Motorsägearbeiten dürfen nur mit vollständiger Schutzausrüstung durchgeführt werden
  • Viele selbstständige Landwirte sind nebenbei Jäger. Als Jagdunternehmer (Jagdpächter) üben sie eine hoheitliche Tätigkeit aus und sind ebenfalls in dieser Eigenschaft in der SVLFG ver-sichert. Dies gilt nicht für Jagdgäste! Daher sind Jäger bei Schieß-unfällen (Knalltrauma) als auch bei chronischen Lärmschäden (Berufskrankheit) versichert. Es kann daher sein, dass ein älterer Landwirt zwar seinen Hof abgeben hat, aber dennoch weiter zur Jagd geht. Der Technische Aufsichtsdienst stellt einerseits sicher, ob es sich dabei um eine versicherte Tätigkeit handelt, andererseits wird von ihm ermittelt, wie viele Schüsse mit welchen Waffen abgegeben werden.
  • In der Regel wird bei der reinen Jagdtätigkeit im Gegensatz zum Übungsschießen auf Schießständen kein Gehörschutz getragen. Bei Schüssen mit einer Schrotflinte sind Schalldruckpegel (LAImax) von 120 dB(A) bis 145 dB(A) am Ohr des Schützen keine Seltenheit. Jagdbüchsen weisen – wie andere Gewehre – in Abhängigkeit vom Kaliber und der verwendeten Munition noch deutlich höhere Schalldruckpegel auf.
  • Da es sich um Einzelereignisse handelt, wird vom Techni-schen Aufsichtsdienst in der Regel kein wochenbezogener Lärm-expositionspegel angegeben. Daher hat der Gutachter selbst abzuschätzen, wie die Lärmbelastung zu bewerten ist.

Arbeitsplatzanalyse

Die vom technischen Aufsichtsdienst in der Landwirtschaft erstellte Arbeitsplatzanalyse weicht daher von anderen Arbeitsplatzanalysen ab. Es werden Zeiträume angegeben, in denen die jeweiligen Expositionszeiträume auf die Woche umgerechnet und dann addiert werden, so dass ein persönlicher Wochenlärmexpositionspegel resultiert. Die Gesamtexposition wird mit dem Lärmexpositionsrechner der IFA (Institut für Arbeitsschutz der Gesetzlichen Unfallversicherung) unter Berücksichtigung der Zeitanteile vorgenommen.

Zur mühsamen gutachterlichen Interpretation trägt oft bei, dass jahreszeitlich bedingt in der Landwirtschaft völlig andere Tätigkeiten verrichtet werden, die sich dann in starken Schwankungen der Lärmexposition über das ganze Jahr äußern ( Tabelle 1).

Es ist zu hoffen, dass in der Zukunft bei flächendeckender Ein-führung der Berechnung der in der Königsteiner Empfehlung vorgegebenen effektiven Lärmdosis nach Liedtke (2010) mehr Überblick für das gesamte Arbeitsleben gewährleistet sein wird. In vielen Fällen kann diese Berechnung jedoch nicht zum Tragen kommen, da in diesem Berechnungsmodell die Expositionsdauer auf 40 Jahre beschränkt ist.

Medizinisch-gutachtliche Aspekte

Wegen der nicht festen Arbeitszeiten eines Landwirts kann eine Ab-grenzung zwischen beruflichen und privaten Unfallschäden bzw. Lärmschäden bei der Begutachtung schwierig sein.

Durch die Hofabgabeklausel bekommen Landwirte nur dann Altersrente, wenn sie ihren Hof abgeben. Daher arbeiten selbst-ständige Landwirte teilweise weit über die Regelaltersgrenze von 65–67 Jahren hinaus, da oft Scheinpachtverträge abgeschlossen werden, wenn keine Nachfolger in Sicht sind. Aber auch bei Abgabe des Hofes an Familienmitglieder bleiben sie unfallversichert, wenn sie weiterhin mitarbeiten.

Dieser „lebenslängliche“ Versicherungsschutz führt in der Begutachtung zu dem Problem einer Abgrenzung einer eventuellen Lärmschwerhörigkeit zu den überwiegenden Zeichen einer „Altershörigkeit“ bei einem sehr alten Landwirt (s. Fallbeispiel 1).

In der Regel sind die Tabellen bis zu einem Lebensalter von 70 Jahren ausgelegt (Michel 2014), so wie die ISO 7029 (2000). Die ältere, weniger gebräuchliche Tabelle von Schmidt (1967) geht bis 75 Jahre.

Auch die in der Königsteiner Empfehlung vorgeschlagene Lebens-lärmdosis (effektive Lärmdosis) hat altersmäßige Grenzen, da diese auf der ISO 7029 (2000) aufbaut.

Allgemein wird in der gesetzlichen Unfallversicherung angenom-men, dass der Einfluss des Lebensalters auf die Hörfähigkeit bis zum 60. Lebensjahr vernachlässigbar ist. Erschwerend kommt jedoch in Betracht, dass die Streubreite des Normalgehörs mit zunehmendem Alter immer größer wird und sich nicht immer deutlich vor der durch Lärm hervorgerufenen Innenohrschwerhörigkeit abtrennen lässt. Eine degenerative oder altersbegleitende Schwerhörigkeit schreitet jedoch unabhängig von dem durch Lärm indizierten Gehörverlust voran (Swoboda u. Welleschik 1991), was häufig erst nach Beendigung der Lärmexposition deutlich wird.

Bei einem höheren Lebensalter (61–70 Jahre) wird von einem schnelleren degenerativen Hörverlust vor allem in den höheren Frequenzen ausgegangen (Hesse u. Laubert 2005). In diesem Fall sind Kausalitätsprobleme bei der Abgrenzung zwischen beruflicher und außerberuflicher Schwerhörigkeit zu erwarten (Brusis 2009).

Diese Aspekte spielen immer dann eine tragende Rolle, wenn es um die Übernahme der Kosten für Hörgeräte geht. Gehörverschlechterungen, die nicht aufgrund beruflich bedingten Lärms entstehen, sind nicht versichert (s. Fallbeispiel 2).

Versorgung mit Hörgeräten

Mit Wirkung ab 01.01.2015 ist zwischen der SVLFG und der Bundes-innung der Hörgeräteakustiker KdöR (BIHA) eine neue Rahmenvereinbarung über die Versorgung mit Hörgeräten (VbgHG) erfolgt, die die 01.03.2008 geschlossene erste Rahmenvereinbarung ablöst. Für alle in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten wird durch sie die Versorgung mit Hörgeräten verbindlich geregelt.

Zur Vereinfachung gibt es drei Kategorien Hörgeräte mit unter-schiedlichen Pauschalpreisen und für unterschiedliche Hörminde-rungen und Anforderungen (Michel et al. 2015).

Hörgeräte sollen im Lärmbereich grundsätzlich nicht getragen werden (DGUV 2011). Neue technische Entwicklungen ermöglichen aber „Hörsysteme mit persönlichem Gehörschutz“ (Brusis u. Sickert 2012), die in der aktuellen VbgHG erstmalig geregelt werden. Die Versorgung mit Geräten, die gleichzeitig mit besonderer Otoplastik als Gehörschutz die-nen, kann erfolgen, wenn der UV-Träger fest-stellt, dass das Tragen von Hörgeräten im Lärm erforderlich ist. Voraussetzung ist die Zertifizierung und Zulassung der jeweiligen Geräte nach geltenden gesetzlichen Bestim-mungen.

Wie sich die Hörgeräte im Zuständigkeitsbereich der SVLFG durchsetzen werden, ist noch nicht deutlich. Aus der Sicht des Gehörschutzes ist aber nach wie vor darauf zu achten, dass gewöhnliche Hörgeräte nicht aus falschem Verständnis im Lärm als „Gehörschutz“ getragen werden (Brusis 2012).

Wie in allen anderen Versicherungsbe-reichen gilt, dass die Prophylaxe von Gehör-schäden den höchsten Stellenwert genießen muss, da durch Lärm zerstörte Haarzellen nicht nachwachsen. Es kann von Hals-Nasen-Ohren-ärztlicher Seite nicht überprüft werden, ob regelmäßig Hinweise von der LVLFG erfolgen, eine persönliche Schutzausrüstung im Stall oder bei besonders lärm-intensiven Arbeiten zutragen.

Aus den Gutachtenaufträgen geht fast nie hervor, dass Lärmvorsorgeuntersuchungen erfolgen. Eine Feststellung der Lärmbelastung und der Hörfähigkeit erfolgt erst, wenn der Betroffene eine Einschränkung seiner sozialen Hörfähigkeit empfindet, einen HNO-Arzt aufsucht und dieser eine Anzeige wegen des Verdachts einer Lärmschwerhörigkeit stellt. Auf welchem Bauern-hof gibt es schon einen Betriebsarzt?

Fallbeispiel 1

Der selbstständige Landwirt (87 Jahre) ist nach Auskunft des Technischen Aufsichtsdienstes von 1948 bis auf weiteres in der Landwirtschaft tätig. Zwar wurde der Betrieb 1994 von ihm an seinen Sohn abgegeben, doch der Versicherte hat weiterhin im Betrieb gearbeitet. In dieser Zeit lag der persön-liche Beurteilungspegel zwischen 1948 und 2000 über 90 dB(A), zeitweise auch über 95 dB(A).

Nach seinen eigenen Angaben bemerkte der Versicherte seit 40 Jahren eine Hörminderung. Das älteste aktenkundliche Tonaudiogramm stammt allerdings vom 15.09.1998 und zeigt beiderseits eine mit Maximum bei 3000 Hz gelegene Hochtonsenke bis auf 85 dB rechts respektive 90 dB links ( Abb. 1a).

Im Tonschwellenaudiogramm vom Februar 2013 wurde von dem Versicherten eine im Hochtonbereich gelegene Senke angegeben, die nunmehr 75 dB rechts und 45 links bei 3000 Hz erreichte. Im Sprachaudiogramm war ein Diskriminationsverlust von 15 % festzustellen ( Abb. 1b).

Beurteilung: Die Schwerhörigkeit hat im Vergleich zu der Hörprüfung von 1998 geringfügig zugenommen. Lärm wurde aber weiterhin als die wesentliche Ursache der vorliegenden Hörstörung angesehen, obwohl sich jedoch auch degenerative Anteile (Diskriminationsverlust im Sprachaudiogramm, sich abflachender Hochtonabfall in den hohen Frequenzen und Absinken der Hörschwelle auch im Mitteltonbereich) feststellen ließen.

Letztere Anteile erschienen jedoch nicht wesentlich für die vorliegende Hörstörung, so dass die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit ab dem 15.09.1998 mit einer MdE von unter 10 % und ab dem Datum der ärztlichen Anzeige mit 10 % vorgeschlagen wurde.

Fallbeispiel 2

Der Versicherte (73 Jahre) erlitt am 28.12.1963 eine Kreissägenverletzung im Gesicht. Nach dem Hals-Nasen-Ohren-fachärztlichen Gutachten vom 23.10.1965 bestand laut Audiogramm rechtsseitig eine Normalhörigkeit und linksseitig eine hochgradige kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit, wobei die Innen-ohr-Komponente um 30 dB bis 2000 Hz reichte und hauptsächlich eine Schallleitungskomponente vorlag. Diese wurde mit einer Tuben-belüftungsstörung in Folge der Mittelgesichtstrümmerfraktur erklärt. Mit Datum vom 28.05.2014 wurde eine Verschlimmerung des anerkannten Hörschadens durch nachgewiesene berufliche Lärmeinwirkung und eine Hörgeräteversorgung mit Geräten in einem Gesamtpreis von € 3837 beantragt. Das dem HNO ärztlichen Bericht beigefügte Audiogramm vom 28.04.2014 zeigte eine annähernd symmetrische Hörstörung vom Typ einer Schallempfindungsschwerhörigkeit auf beiden Seiten mit einem Anteil im Tieftonbereich zwischen 20–40 dB bis 1000 Hz sowie einen Hochtonschrägabfall auf ein Maximum 70 dB ( Abb. 2).

Beurteilung: Eine Schalleitungsstörung war nicht mehr vorhanden und eine durch die Einwirkung von beruflichem Lärm bedingte Hochtonsenke bei 4000 Hz nicht festzustellen. Die Hörkurve wurde mit dem Vorliegen einer beiderseitigen altersmäßigen Empfindungs-Schwerhörigkeit (Altershörigkeit) interpretiert. Das Sprachaudiogramm ergab zusätzlich einen sehr hohen Diskriminationsverlust, der zu einer Lärmschwerhörigkeit nicht passte.

Auch wenn die berufliche Lärmexposition nachgewiesen war (haftungsbegründende Kausalität) und ein Arbeitsunfall anerkannt war, ließ sich die haftungsausfüllende Kausalität nicht nachweisen. Eine mögliche Lärmschädigung war in der vorliegenden Hörstörung „untergegangen“, weder eine Erhöhung der anerkannten MdE noch eine Hörgeräteversorgung auf Kosten der SVLFG waren zu empfehlen.

Literatur

BAuA: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2013 – Unfallverhütungsbericht Arbeit. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Berlin, 2014.

Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Kausalitätsprobleme bei der Abgrenzung zwischen beruflicher und außerberuflicher Schwerhörigkeit. Laryngorhinooto-logie. 2009; 88: 45–47.

Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Hörgerätever-ordnung nach der neuen Königsteiner Empfehlung (2012). Laryngorhinootologie. 2012; 91: 581–583.

Brusis T, Michel O: Aus der Gutachtenpraxis: Besonderheiten bei der Begutachtung von Landwirten bei Verdacht auf Lärmschwerhörigkeit. Laryngo-, Rhino-, Otologie. 2013; 92: 611–613.

DGUV: Regel Benutzung von Gehörschutz: BGR/GUV-R 194. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, 2011.

Hesse G, Laubert A: Hörminderung im Alter – Ausprägung und Lokalisation. DtschÄrztebl. 2005; 102: A2864–A2868.

International Organization for Standardization I: Standard 7029: Acoustics – Statistical distribution of hearing thresholds as a function of age. International Standard Organization, Geneva, 2000.

Michel O: Die Beurteilung der Normalhörigkeit in der Hals-Nasen-Ohren-ärztlichen Begutachtung. HNO. 2014; 62: 382–384.

Michel O, Wolf U, Brusis T: Aus der Gutachtenpraxis: Die neue Rahmenvereinbarung über die Versorgung mit Hörgeräten (VbgHG) vom 1.1.2015. Laryngo-rhinootologie. 2015; 94: 328–330.

Schmidt PH: Presbyacusis. IntAudiol. 1967; 6: 1–36.

Swoboda H, Welleschik B: Zur Entwicklung endogener Innenohrschwerhörigkeiten unter beruflicher Lärmexposition. Laryngorhinootologie. 1991; 70: 463–469.

Für die Verfasser

Prof. Dr. med. O. Michel

Afdelingshoofd dienst KNO

Universitair Ziekenhuis – Vrije Universiteit Brussel UZ-VUB

Laarbeeklaan 101

B-1090 Brüssel

omichel@uzbrussel.be

Fußnoten

1 Universitair Ziekenhuis – Vrije Universiteit Brussel UZ-VUB, Brüssel

2 Institut für Begutachtung, Köln