Seit über 25 Jahren werden Anpassungen an arbeitsmedizinische Erkenntnisse und eine Überantwortung der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen an Arzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde gefordert. Aktuelle Untersuchungen unterstreichen, dass der Status quo keine suffiziente Basis darstellt und es nicht auszuschließen ist, dass hieraus auf betrieblicher Ebene sogar erhebliche, vermeidbare Mehrkosten resul-tieren können. Die veränderten Rahmenbedingungen im Arbeitsleben, wie auch arbeitsmedizinische Erkenntnisse und Standards sollten in eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Grundlagen Eingang finden.
Einleitung
Die Entwicklung eines staatlichen Arbeitsschutzes für Kinder und Jugendliche lässt sich bis ins 19. Jahrhundert mit der aufkommenden Industrialisierung zurückverfolgen. So wurde in Preußen mit dem „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter“ vom 9. März 1839 erstmals die Fabrikarbeit für Jugendliche unter 16 Jahren auf 10 Stunden begrenzt und für Kinder unter 9 Jahren grundsätzlich untersagt.
1960 wurde das Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend (Jugendarbeitsschutz-gesetz – JArbSchG) neu verkündet; dies wurde zuletzt im Januar 2015 geändert. Es regelt in den ersten Titeln die Bereiche Arbeitszeit und Freizeit, Beschäftigungsverbote und -be-schränkungen sowie Pflichten des Arbeitgebers. Im Dritten Abschnitt, Vierter Titel, folgt der Bereich „Gesundheitliche Betreuung“, dessen Ausführungen in den §§ 32–46 geregelt wird.
Die formale Durchführung der ärztlichen Untersuchungen gemäß JArbSchG ist durch die Jugendarbeitsschutzuntersuchungs-verordnung (JArbSchUV) vorgegeben.
In den vergangenen Jahrzehnten kam es nicht nur zu Veränderungen im Arbeitsleben (bezogen auf den einzelnen Arbeitsplatz), sondern auch zu gravierenden vielschichtigen strukturellen Veränderung der Gesellschaft. Wesentlich sind hier das veränderte Bildungs-/Berufsspektrum zusammen mit einer zunehmenden Verschiebung des Eintrittsalters ins Arbeits- und Berufsleben hin zum Erwachsenenalter. Nicht weniger gravierend ist die in den letzten Jahrzehnten zunehmend ausgeprägte berufliche Diskontinuität, charakterisiert durch Ausbildungsabbrüche, Berufswechsel oder Branchen-wechsel. Beiden Veränderungen wurde in der Diskussion bislang hinsichtlich real bestehender Umsetzbarkeit bzw. Möglichkeiten und Folgen des Jugendarbeitsschutzes nicht hinreichend Rechnung getragen.
Im Folgenden sollen die Ausführungen der §§ 32–46 JArbSchG hinsichtlich ihres Anspruchs und ihrer tatsächlicher Effizienz aus arbeitsmedizinischer Sicht diskutieren werden.
Eine kurze Zusammenfassung der Ziele und Aufgaben des JArbSchG, findet sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: „Ziel des Gesetzes ist es, Kinder und Jugendliche vor Überlastungen zu schützen. Das Gesetz schützt deshalb junge Menschen vor Arbeit, die zu früh beginnt, die zu lange dauert, die zu schwer ist, die sie gefährdet oder die für sie ungeeignet ist“ (BMAS).
Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist auf alle Beschäftigungsverhältnisse von Personen an-zuwenden, die noch nicht 18 Jahre alt sind. In § 2 wird der Personenkreis wie folgt definiert: „Kind im Sinne dieses Gesetzes ist, wer noch nicht 15 Jahre alt ist. Jugendlicher im Sinne dieses Gesetzes ist, wer 15, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Auf Jugendliche, die der Vollzeitschulpflicht unterliegen, finden die für Kinder geltenden Vorschriften Anwendung.“
Vorgesehene Untersuchungen
Folgende Untersuchungen der Jugendlichen sind im JArbSchG vorgesehen: Innerhalb von 14 Monaten vor Beschäftigungsbeginn muss die Erstuntersuchung (§ 32) durchgeführt werden; dem Arbeitgeber ist vom Arzt eine Bescheinigung zu erstellen (ausgenom-men sind „geringfügige oder eine nicht län-ger als zwei Monate dauernde Beschäftigung mit leichten Arbeiten, von denen keine gesundheitlichen Nachteile für den Jugendlichen zu befürchten sind“).
Ein Jahr nach Aufnahme der ersten Beschäftigung hat sich der Arbeitgeber die Bescheinigung eines Arztes darüber vorlegen zu lassen, dass die Erste Nachuntersuchung (§ 33) des Jugendlichen erfolgt ist. Über die Pflicht zur Nachuntersuchung hat der Arbeitgeber (9 Monate nach Beschäftigungsbeginn) zu informieren. Falls der Jugendliche 14 Monate nach Aufnahme der ersten Beschäftigung dem Arbeitgeber die Nachunter-suchungsbescheinigung nicht vorgelegt hat, darf er nicht weiterbeschäftigt werden.
Hieraus resultiert, dass zwischen erfolg-ter Erst- und erster Nachuntersuchung maxi-mal bis zu 28 Monate vergangen sein können. Vollendet der Jugendliche aber vor Ablauf der 28 Monate das 17. Lebensjahr, so obliegt er nicht mehr dem JArbSchG, mit der Konsequenz, dass keine Nachuntersuchung ge-mäß JArbSchG erfolgt.
Neben der ersten Nachuntersuchung be-steht mit § 34 die Möglichkeit zu „Weiteren Nachuntersuchungen“: Nach Ablauf jedes weiteren Jahres nach der ersten Nachunter-suchung kann sich der Jugendliche erneut nachuntersuchen lassen (auf diese Möglichkeit soll der Arbeitgeber rechtzeitig hinwei-sen). Hier handelt es sich also lediglich um ein nicht verpflichtendes Angebot zur Unter-suchung, dessen Wahrnehmung beim Jugendlichen eine Aufklärung bzw. ein Eigeninteresse voraussetzt.
Neben den vorgenannten Untersuchun-gen sieht § 35 des JArbSchG eine „Außerordentliche Nachuntersuchung“ vor. Diese soll der Arzt anordnen, wenn eine Untersuchung ergibt, dass ein Jugendlicher hinter dem seinem Alter entsprechenden Entwick-lungsstand zurückgeblieben ist, gesund-heitliche Schwächen oder Schäden vorhanden sind, die Auswirkungen der Beschäftigung auf die Gesundheit oder Entwicklung des Jugendlichen noch nicht zu übersehen sind.
Ärztliche Untersuchungen und Wechsel des Arbeitgebers: Bescheinigungen zu Erst- bzw. Nachuntersuchungen müssen vom Ju-gendliche bei einem Arbeitgeberwechsel vor-gelegt werden (§ 36) und haben „Bestandsschutz“.
Bedingt durch den Gültigkeitsbestand der Bescheinigungen kann der untersuchende Arzt z. B. bei einem Tätigkeitswechsel mit resultierendem, geändertem Gefährdungsprofil den Jugendlichen nicht mehr entspre-chend seiner persönlichen Bedürfnisse bera-ten. Es wäre denkbar, dass Jugendliche ihrer-seits den Arzt aktiv erneut aufsuchen – eine derartige „zweite“ Beratung, die einer ar-beitsmedizinischen Wunschuntersuchung entsprechen würde, sieht das JArbschG aber nicht vor; auch wäre eine Kostenübernahme nicht geregelt.
Auch hier wird das aus den 60er Jahren des 20. Jh. stammende Gesetz der heutigen Realität mit wechselndem Berufswunsch bzw. einer hohen Zahl von Ausbildungsabbrüchen oder -Berufswechslern nicht mehr gerecht.
Umfang und Inhalt der Untersuchungen
Inhalt und Durchführung der Jugendarbeits-schutzuntersuchungen werden in § 37 geregelt:
(1) Die ärztlichen Untersuchungen haben sich auf den Gesundheits- und Entwicklungsstand und die körperliche Beschaffenheit, die Nachuntersuchungen außerdem auf die Auswirkungen der Beschäftigung auf Gesundheit und Entwicklung des Jugendlichen zu erstrecken.
(2) Der Arzt hat unter Berücksichtigung der Krankheitsvorgeschichte des Jugendlichen aufgrund der Untersuchungen zu beurteilen, ob 1. die Gesundheit oder die Entwicklung des Jugendlichen durch die Ausführung bestimmter Arbeiten oder durch die Beschäf-tigung während bestimmter Zeiten gefähr-det wird, 2. besondere der Gesundheit dienende Maßnahmen erforderlich sind und 3. ob eine außerordentliche Nachuntersuchung (§ 35 Abs. 1) erforderlich ist.
Entsprechend § 37 (3) hat der Arzt schriftlich festzuhalten: 1. den Untersuchungsbefund, 2. die Arbeiten, durch deren Ausführung er die Gesundheit oder die Entwicklung des Jugendlichen für gefährdet hält, 3. die besonderen der Gesundheit dienenden Maßnahmen und 4. ggf. die Anordnung einer außerordentlichen Nachuntersuchung (§ 35 Abs. 1).
Hinsichtlich der Untersuchung gibt die Ju-gendarbeitsschutzuntersuchungsverordnung (JArbSchUV) standardisierte Erhebungs-/Anamnesebögen vor: In den Anamnese-bögen sind hierzu Fragen zu allgemeinen Komplexen, z. B. „Allergien“, „Hautrötungen“, beispielsweise mit Alternativfragen „Ja“, „Nein“ und „unbekannt“ zu beantworten.
Welche konkrete Ausbildung bzw. Tätigkeit der Jugendliche anstrebt, wird aber nicht erfasst, mit der Folge, dass höchstens unspezifische Empfehlungen ausgesprochen werden können und es dann zur Aufgabe des Ausbilders oder Arbeitgebers wird, dies zu interpretieren und dem Arbeitsplatz ent-sprechend umzusetzen. Dieses in der aktu-ellen JArbSchUV vorgesehene Prozedere ent-spricht bei weitem nicht mehr den aktuell gültigen arbeitsmedizinischen Erkenntnis-sen und Standards.
Der Einsatz standardisierter ärztlicher Untersuchungsmethoden ist hingegen nicht vorgeschrieben, sondern erfolgt gemäß der individuellen ärztlichen Einschätzung. Vor-gegeben ist lediglich, dass die Untersuchung dabei „eine eingehende, das gewöhnliche Maß übersteigende (körperliche) Untersuchung (einschließlich einfacher Seh-, Hör- und Farbsinnprüfung) sowie Urinuntersuchung auf Eiweiß, Zucker und Erythrozyten“ umfassen soll. Dies trifft z. B. auf die Diagnostik der Funktion der Sinnesorgane, der Lungenfunktion oder relevanter Blutparameter zu. Beispielsweise wäre die frühzeitige Erkennung einer bei Jugendlichen heute häufig beginnenden Hörschädigung mit systema-tischer Audiometrie hier sicherlich eine sinn-vollere Methode, als z. B. ein einfacher Test mittels „Flüstersprache“ – soweit ein solcher überhaupt durchgeführt wird.
Allerdings hat der untersuchende Arzt häufig wohl weniger Schwierigkeiten bei der Bewertung des Entwicklungsstands des Jugendlichen als bei der Einschätzung einer möglichen berufsspezifischen Gesundheits-gefährdung; wenngleich auch hier sich einfache standardisierte Testverfahren (z. B. Fragebögen) anbieten würden. Diese unbestimmten gesetzlichen Vorgaben stellen einen entscheidenden Unterschied zu arbeitsmedizinischen Untersuchungen dar, die sich hier z. B. an den berufsspezifischen Vorgaben, wie z. B. den DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen (Rutenfranz et al. 1988), orientieren und mit einer Fachkunde verbunden sind.
Insbesondere § 37 (3) 3 u. 4 setzen aber seitens der untersuchenden Ärzte sowohl Kenntnisse des angestrebten Arbeitsplatzes im Allgemeinen, als auch die Umstände spezifischer arbeitstypischer Tätigkeiten u. Abläufe voraus, über die in der Regel häufig nur Ärzte mit arbeitsmedizinisch-fachkundigem Hintergrund verfügen.
Bei einer bis zu 14 Monate im Vorfeld der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit stattfindenden Erstuntersuchung (§ 32) wird der Jugendliche oder der Personenvorsorge-berechtigte allerdings dem nichtfachkundi-gen Arzt häufig in unzureichender Weise die erforderlichen Auskünfte erteilen können. Dies trifft insbesondere für den Fall zu, dass bei den Jugendlichen Unklarheit über den zu wählenden Beruf oder eine zukünftige real zur Verfügung stehenden Arbeitsplatz besteht.
Neben der eigenen ärztlichen Untersu-chung sieht das Gesetz die Möglichkeit von Ergänzungsuntersuchung (§ 38) vor: Kann der Arzt den Gesundheits- und Entwicklungs-stand des Jugendlichen nur beurteilen, wenn das Ergebnis einer Ergänzungsuntersuchung durch einen anderen Arzt oder einen Zahnarzt vorliegt, so hat er die Ergänzungsuntersuchung zu veranlassen und ihre Notwendigkeit schriftlich zu begründen.
Eine arbeitsmedizinisch fachkundige (ggf. sinnvolle) Ergänzungsuntersuchung ist aber im JArbSchG nicht vorgesehen, obwohl ge-rade diese hinsichtlich arbeitsplatzspezifi-scher Gefährdungen wünschenswert wäre. Neben Kostenfaktoren steht vermutlich häu-fig auch die vom Arzt geforderte schriftliche Begründung der Notwendigkeit von Ergänzungsuntersuchungen entgegen.
Bescheinigungen bzw. Mitteilungen
Gemäß § 39 hat der Arzt zum einen dem Per-sonensorgeberechtigten gegenüber schriftlich das wesentliche Ergebnis der Untersu-chung mitzuteilen, die Arbeiten, durch deren Ausführung er die Gesundheit oder die Ent-wicklung des Jugendlichen für gefährdet hält, die besonderen der Gesundheit dienenden Maßnahmen, sowie ggf. die Anordnung einer außerordentlichen Nachuntersuchung (§ 35 Abs. 1). Gegenüber dem Arbeitgeber hat der Arzt eine Bescheinigung darüber auszustellen, dass die Untersuchung stattgefunden hat und darin die Arbeiten zu vermerken, durch deren Ausführung er die Gesundheit oder die Entwicklung des Jugendlichen für gefährdet hält.
§ 40 sieht außerdem Bescheinigung mit Gefährdungsvermerk vor:
(1) Enthält die Bescheinigung des Arztes (§ 39 Abs. 2) einen Vermerk über Arbeiten, durch deren Ausführung er die Gesundheit oder die Entwicklung des Jugendlichen für gefährdet hält, so darf der Jugendliche mit solchen Arbeiten nicht beschäftigt werden.
(2) Die Aufsichtsbehörde kann die Beschäf-tigung des Jugendlichen mit den in der Bescheinigung des Arztes (§ 39 Abs. 2) vermerk-ten Arbeiten im Einvernehmen mit einem Arzt zulassen und die Zulassung mit Auflagen verbinden.
Eine individuelle Gefährdungsbeurteilung, wie diese eine arbeitsmedizinische Vorsorge voraussetzt, liegt dem Arzt i. d. R. nicht vor. Es obliegt somit dem Arbeitgeber, die richtigen Entscheidungen für den auszubildenden Jugendlichen zu treffen.
Effizienz der Jugendarbeitsschutz-untersuchungen unter Berücksich-tigung demografischer und gesell-schaftlicher Veränderungen
Umsetzung, Effizienz und Effektivität der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen wurden wiederholt diskutiert und auch eine stärker arbeitsmedizinisch orientierte Unter-suchung im Rahmen der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen wiederholt empfohlen (z. B. Rutenfranz et al. 1988; Hartmann u. Thiel 1993).
Als Argument gegen eine obligate Durch-führung der Jugendarbeitsschutzuntersu-chungen durch Ärzte mit arbeitsmedizini-scher Fachkunde wurde bislang einerseits die nicht ausreichende Zahl arbeitsmedizi-nisch fachkundiger Ärzte genannt, anderer-seits, dass Haus- oder Kinderärzte (die meist die Jugendarbeitsschutzuntersuchungen durchführen) die individuelle Beurteilung der bereits bekannten Jugendlichen besser einschätzen können. Letzteres kann zumindest durch die aktuellen Ergebnisse aus dem BIBB-Report 2013/21 nicht bekräftigt werden (Beicht u. Walden 2013).
Die Anzahl der unter das JArbSchG fallen-den neuabgeschlossener Ausbildungsverträge Auszubildender zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr ist kontinuierlich rückläufig: von 299 883 (52,5 %) in 1993 auf 151 497 (27,1 %) in 2010. Dies entspricht einem Rück-gang um 47 % (Datenbank Auszubildende des BIBB 1993 bis 2010).
Im Gegenzug kam es zu einer Zunahme der Ausbildungsvertragsabschlüsse in der Gruppe der 19- bis 24-Jährigen. Diese Alters-gruppe wird in anderen europäischen Ländern auch noch unter die Gruppe „Jugendlicher“ subsummiert; eine Anpassung der im JArbSchG als Jugendliche definierten Altersgruppe wäre hier geboten. Damit würde nicht nur gesellschaftlichen Veränderungen, sondern auch einer europäischen Harmonisierung und Vergleichbarkeit Rechnung getragen. Aktuell fallen somit zunehmend immer weniger jugendliche Auszubildenden unter das JArbSchG. Diesen steht eine seit ca. 10 Jahren relativ gleichbleibende Zahl von Fachärzten für Arbeitsmedizin bzw. Ärzte mit Fachkunde, gegenüber: 11 361 (Stand: 31.12.2011; Bundesärztekammer: Tätigkeitsbericht 2012); zeitgleich ist die Anzahl der Erwerbstätigen mit rund 40,3–40,4 Millionen relativ stabil (statistia.com).
Vermindern Jugendarbeitsschutz-untersuchungen das Risiko gesundheitsbedingter Ausbildungs-abbrüche oder von Fehlzeiten?
Inwieweit gesundheitliche Gründe für einen Ausbildungsabbruch ausschlaggebend sind, wurde zuletzt in der weniger bekannten BIBB-Übergangsstudie 2011 erhoben.2 Trotz dieser Einschränkung scheint in diesem Zusammenhang eine Berücksichtigung des ak-tuellen BIBB-Reports 2013/21 (dieser basiert auf Daten der BIBB-Übergangsstudie 2011) geboten, da die Erstuntersuchung gemäß JArbSchG, zumindest teilweise, auch diesen Personenkreis betroffen hat.
Hier gaben 42 % der Jugendlichen „per-sönliche, finanzielle, gesundheitliche Grün-de“ als Ursache für eine Vertragsauflösung an. Innerhalb dieser Untergruppe nannten wiederum 39 % der Frauen und 45 % der Männer gesundheitliche Gründe als Ursache für die Beendigung der (ersten) dualen Be-rufsausbildung ohne Abschluss an (Anmer-kung: Schwangerschaft und Kindererziehung sind hier nicht eingeschlossen). Aus diesen Zahlen kann abgeleitet werden, dass bei 35,3 % der Jugendlichen (16,4 % der Frauen und 18,9 % der Männer) gesundheitliche Gründe wesentliche Ursache einer vorzeitigen Vertragsauslösung darstellen.
Dieser deutlich hohe Anteil ist auch in Zusammenhang mit der Anzahl chronisch kranker Jugendlicher zu sehen: „Bei sechzehn Prozent der Vierzehn- bis Siebzehn-jährigen in Deutschland geht man heute von einem besonderen Bedarf an Gesundheitsversorgung aus“ (Hucklenbroich 2014). Inwieweit dieser Tatsache in der bestehenden Form der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen ausreichend Rechnung getragen wird, ist noch zu prüfen.
Hinsichtlich Ausbildungsabbrüchen bzw. vorzeitiger Vertragsauslösung, aber auch krankheitsbedingter Ausfallzeiten von Aus-zubildenden, liegen nur Schätzungen auf Grundlage der Daten des BiBB-Reports 2012 vor. Auf diesen basierend, errechneten Wen-zelmann und Lemmermann (2012) für eine Vertragsauflösung durchschnittlich entste-hende durchschnittlich, betriebliche verlo-rene Kosten i. H. v. € 1219 pro eingestelltem Auszubildenden und stellten fest, dass somit auf „… Berufsebene gezeigt werden konnte, dass es einen deutlich negativen Zusammenhang zwischen den Rekrutierungskosten und der Vertragslösungsquote gibt. Höhere Investitionen bei der Auswahl der Auszubilden-den können also die Wahrscheinlichkeit einer Vertragslösung reduzieren.
Hinsichtlich der o. g. gesundheitlich be-gründeten Ausbildungsabbrüche von etwa 35 % bedeutet dies, dass gerade auch eine Optimierung der frühzeitigen gesundheit-lichen Beratung jugendlicher Auszubildender mehr als geboten ist.
Dies wurde auch im persönlichen Gespräch mit der IHK Rhein-Neckar wie auch dem Zentralverband des Deutschen Handwerks e. V. (ZDH/Berlin) bestätigt. Von bei-den Institutionen war in Juli 2014 zu erfahren, dass von deren Mitglieder subjektiv eine seit Jahren deutlich zunehmende Anzahl von Fehlzeiten bei Auszubildenden – mit AU-Zeiten von teilweise über mehrere Monate bis hin zu einem Jahr – festgestellt werden. Zu deren möglichen Ursachen wurden mut-maßlich psychische Belastungen im Zuge des Eintritts ins Erwerbsleben und damit verbundenen Umstellungen als mitursächlich genannt. Allerdings erfolgt seitens der Mitglieder von IHK oder des ZDH wohl weder eine systematische Erfassung krankheitsbedingter Ausbildungsabbrüche oder -ausfälle, noch werden diese an Dachverbände weitergeleitet. Eine systematische Erhebung diese Daten wurde angeregt. Wäre dem aber tatsächlich so, dann würde auch hier der An-spruch des JArbSchG, „junge Menschen vor Arbeit, die zu früh beginnt, die zu lange dauert, die zu schwer ist, die sie gefährdet oder die für sie ungeeignet ist …“ (BMAS) zu schützen, in seiner jetzigen Form in einem zentralen Punkt nicht gerecht. Dies würde dem Ansatz widersprechen, dass Haus- bzw. Kinderärzte – die die Jugendlichen vermeintlich gut kennen – in besonderer Weise zur Beurteilung der Entwicklung – auch der psychischen – geeignet wären, Jugendliche einzuschätzen.
Voraussetzungen für eine effiziente Umsetzung von Jugendarbeitsschutz-untersuchungen
Im Kontext einer Erörterung der Umsetzung der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen gemäß JArbSchG und JArbSchUV ist aber auch festzustellen, dass die Kosten für die Untersuchungen seitens der Länder getragen werden. Erst- und Nachuntersuchun-gen werden nach Ziffer 32 der GOÄ mit dem einfachen Satz, also mit (400 Punkte) € 23,31 vergütet. Dies betrifft die Untersuchung nach § 32 bis § 35 und § 42 des Jugendarbeitsschutzgesetzes (die GOÄ nennt hier: „ein-gehende, das gewöhnliche Maß übersteigende Untersuchung – einschließlich einfacher Seh-, Hör- und Farbsinnprüfung – Urinuntersuchung auf Eiweiß, Zucker und Erythrozyten, Beratung des Jugendlichen, schriftliche gutachtliche Äußerung, Mitteilung für die Personensorgeberechtigten und die Bescheinigung für den Arbeitgeber“). Die Diskrepanz zwischen definiertem Untersu-chungsumfang, festgesetztem GOÄ-Satz und gesellschaftlicher Bedeutung der Jugendarbeitsschutzuntersuchungen ist offen-sichtlich.
Es sprechen neben den bereits ausgeführ-ten arbeitsmedizinischen Gründen auch be-reits oben genannte wirtschaftlichen Gründe für eine deutliche Optimierung der medizinischen Beratung und Betreuung jugendlicher Auszubildender im Rahmen des Jugend-arbeitsschutzes, die nur durch eine stärker präventiv und arbeitsmedizinisch ausgerich-tete Untersuchung, Beratung und Betreuung jugendlicher Berufstätiger erfolgreich umgesetzt werden kann. Aufgrund der gelten-den Ausführungen des JArbSchG kann diese aber nicht erfolgen. Eine inhaltliche Anpas-sung der Kostenübernahme für arbeitsmedi-zinisch sinnvolle Untersuchungen im Jugend-arbeitsschutz ist überfällig, ohne die die ge-wünschten Standards und Ansprüche im Sinn des JArbSchG nicht zu erreichen sind.
Weiterentwicklung des JArbSchG und der JArbSchUV
Seitens des BAMS wurde eine „Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Überprüfung des Jugend-arbeitsschutzgesetzes“ einberufen, die 2011 ihren Abschlussbericht vorgelegte.
Unter Bezug auf die vergleichende Arbeit zur „Untersuchung von Jugendlichen unter dem 18. Lebensjahr in EU-Mitgliedsstaaten“ von Kirch et al. (2011) wurden diesem Bericht wesentliche, hier bereits besprochene und verbesserungswürdige Punkte ebenfalls be-nannt. Deren wesentliche Feststellungen sol-len hier stichwortartig wiedergegeben werden: Erstuntersuchungen (bzw. eine Beurteilung des Entwicklungszustand von Jugendlichen) sollten zeitnah vor dem Berufseintritt erfolgen, Erst- und Nachuntersuchungen soll-ten durch arbeitsmedizinisch fachkundige Ärzte durchgeführt werden und mit einer Stärkung der Prävention und Berücksichtigung arbeitsplatzspezifischer Faktoren in die ärztliche Be-ratung eingehen, eine Verpflichtung zur Nach-untersuchung unabhängig vom Alter (also auch nach Erreichen der Volljährigkeit) wird gefordert, weitere Nachuntersuchungen sollten hingegen entfallen, die außerordentliche Nachuntersuchung sollte Bestand haben und eine Überprüfung der Vergütung und Kostenträgerschaft wird empfohlen.
Alle angesprochenen Bereiche können aus arbeitsmedizinischer Sicht uneingeschränkt unterstützt werden. Irritierend und wenig nachvollziehbar ist es aber, wenn die Bund-Länderkommission einerseits hier bereits ge-nannte Kritikpunkte erkennt, dann anderer-seits aber schlussfolgerte: „…, dass der ermittelte Änderungsbedarf nicht so grundlegend ist, dass ein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht“ (Ab-schlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2011, S. 67).
Angesichts des beklagten Fachkräftemangels und der demografischen Veränderungen eine Überarbeitung des JArbSchG bzw. der JArbSchUV dringend erforderlich.
Schlussfolgerung
Der Gesetzgeber sollte es mit weitaus höherer Priorität unterstützen, dass es neben den gesundheitlichen Aspekten auch von gesellschaftlichen und ökonomischen Interesse ist, dass Jugendlichen bereits im Vorfeld der angestrebten Ausbildung bewährte arbeitsmedizinische Untersuchungsstandards uneingeschränkt zur Verfügung stehen, um so deren adäquate Beratung sicherzustellen. Insofern ist eine grundsätzliche Neuausrich-tung des Ansatzes im JArbSchG hin zu einer berufs- bzw. ausbildungsspezifischen ärztlichen Beratung mit präventivmedizinischer Ausrichtung anzustreben.
Auch ist es dringend geboten, die in der JArbSchUV aktuell nicht einheitlichen Unter-suchungsmethoden durch die bewährten ar-beitsmedizinischen Standards zu ersetzen. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Belastungen an Arbeitsplätzen – gerade im Fokus des Übergangs der Jugendlichen ins Berufsleben – sollt auch die Entwicklung der Jugendlichen berücksichtigt werden.
Die derzeit bestehende Beurteilungspflicht des Arbeitgebers hinsichtlich mög-licher Risiken für junge Auszubildende über-steigt seine Möglichkeiten – ohne arbeitsmedizinische Unterstützung bietet der Status quo keine Gewähr für die Gleichbehandlung aller Jugendlichen und erlaubt keine indivi-duell bezogene Gefährdungsbeurteilung.
Es ist daher zu empfehlen, dass Jugend-arbeitsschutzuntersuchungen von Betriebs-ärzten durchgeführt werden und die arbeits-medizinischen Erkenntnisse und Erfahrun-gen in der überfälligen Weiterentwicklung und Anpassung des JArbSchG und der JArbSchUV angemessen berücksichtigt werden.
Literatur
Datenbank Auszubildende des BIBB „1993 bis 2010“: Datenbank Auszubildende des Bundesinstituts für Be-rufsbildung auf Basis der Daten der Berufsbildungs-statistik der statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Erhebung zum 31. Dezember), Berichtsjahre 1993 bis 2010.
Hartmann B, Thiel C: Analyse der Effektivität und arbeitsmedizinische Relevanz von Jugendarbeitsschutz-untersuchungen. ErgoMed 1993; 17: 70–75.
Hucklenbroich C: Chronisch kranke Jugendliche – Mit achtzehn reißt der Kontakt zum Arzt einfach ab. F.A.Z. 18.09.2014.
JArbSchG – Jugendarbeitsschutzgesetz: Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend, vom 12. April 1976 (BGBl. I S. 965). Zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 7 G v. 21.01.2015.
JArbSchUV – Jugendarbeitsschutzuntersuchungs-verordnung vom 16. Oktober 1990.
Rutenfranz J, Labrot B, Hallier E, Marschall B, Schmidt KH, Thiel C: Überlegungen zur Verstärkung präventivmedizinischer Ansätze im Jugendarbeitsschutz. ASP 1988; 10: 243–248.
Fußnoten
1 Der nachfolgende Beitrag wurde vom Autor im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeits- und Sozialmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg konzipiert und ausgearbeitet. Die Veröffentlichung erfolgt demzufolge unter dieser Adresse. Es ist je-doch darauf hinzuweisen, dass diese Einrichtung seit dem 01. April 2015 nicht mehr existiert.
2 Anmerkung: Hier wurden unter der Gruppe „Jugendlicher“ allerdings 18- bis 24-Jährige erfasst – also ein nicht unter den das JArbSchG betreffenden Personenkreis.
Weitere Infos
Beicht U, Walden G: Duale Be-rufsausbildung ohne Abschluss … BIBB REPORT 21/2013
www.bibb.de/dokumente/pdf/a12_BIBBreport_2013_21.pdf
BMAS: Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Überprüfung des Jugendarbeits-schutzgesetzes. 2011
BMAS: JArbSchG (Stand 07/2014)
www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/jugendarbeitsschutzgesetz.html
Kirch W et al.: Ärztliche Unter-suchungen von jungen Menschen unter achtzehn Jahren im Hin-blick auf ihre Gesundheit und Entwicklung im Arbeitsleben in ausgewählten EU-Mitgliedsstaa-ten. BAUA, Forschung Projekt F 2058, 2011
www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/F2058.pdf)
Statista GmbH, Hamburg
Wenzelmann F, Lemmermann H: Betriebliche Kosten von Vertrags-lösungen. BWP 2012
Autor
Cajus Seyfried
Betriebsärztlicher Dienst des Universitätsklinikums und der Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 130.3
69120 Heidelberg