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Interview: “Betriebsärzte haben eine wichtige Lotsenfunktion“

A.F.: Herr Prof. Letzel, können Sie bereits über Ergebnisse aus der Evaluation des Pilot-projekts berichten?

S.L.: Die Studie läuft ja noch, sodass ich im Moment nur von Zwischenergebnissen berichten kann. Es hat bisher eine Vorab-befragung, dann eine Präsenzveranstaltung und direkt im Anschluss daran eine weitere Befragung gegeben. Weitere Befragungen sind geplant. Die Teilnehmer stuften die ge-wählten Fortbildungsthemen – entzünd-liche Darmerkrankungen und entzündliche Rückenerkrankungen – als relevant ein, und es war ein Wissenszuwachs zu verzeichnen. Wobei es ja auch schlimm wäre, wenn das nicht so gewesen wäre … Mit der Repräsen-tativität der Ergebnisse muss man ein bisschen vorsichtig sein, denn wir haben es bei dieser Pilotstudie mit einer relativ kleinen Fallzahl zu tun.

A.F.: Welches vorläufige Fazit ziehen Sie?

S.L.: Als Pilotprojekt ist das eine gute Sache und eine sehr interessante Kooperation. Wenn man so etwas noch einmal macht, sollte man über größere Fallzahlen nachdenken. Und dann geht es natürlich darum, die bei dieser Pilotstudie gewonnen Erfahrungen als Ausgangspunkt für flächendeckende Untersuchungen zu nehmen. Wir brauchen in der Arbeitsmedizin mehr wissenschaftliche Forschung, nicht nur im Bereich der Grundlagenforschung, sondern auch zur Versorgungsforschung sowie zur Qualitätssicherung arbeitsmedizinischen Handelns.

A.F.: Herr Dr. Meier, welche Erfahrungen haben Sie als Dozent im Rahmen des Projekts gemacht?

L.M.: Das Projekt ist wirklich interessant und es wäre sicher sinnvoll, wenn niedergelassene Ärzte und Arbeitsmediziner mehr Kontakt zueinander hätten. Als Fachärzte haben wir oft gar nicht die Zeit, Hintergründe aus der Arbeitswelt zu erkennen, wir sehen den Pa-tienten ja nicht in seinem beruflichen Umfeld. Eine engere Kooperation wäre wünschenswert, wobei man überlegen müsste, wie das in der Praxis aussehen könnte. Bei den Schu-lungsveranstaltungen merkte man aber auch ganz konkret, dass etwa in den Pausen eine richtig enge Kommunikation zwischen Fach- und Betriebsärzten nicht zustande kam. Wir sind vielleicht wirklich in verschiedenen Wel-ten zu Hause. In späteren Kursen sollte man die Schnittstellen noch besser nutzen.

A.F.: Wie sieht die Vernetzung zwischen Betriebsärzten und Haus- oder Fachärzten derzeit aus?

S.L.: Das ist immer wieder ein Thema. Der Austausch zwischen kurativer und präven-tiver Medizin ist keine Einbahnstraße, sondern da sind beide Seiten gefordert. Leider redet man heute oft noch aneinander vorbei und der eine versteht nicht, was der andere tut. Dabei ist eine bessere Vernetzung zwingend erforderlich. Das wäre auch eine Erkenntnis aus der Studie: Eigentlich müsste man gleich beide Seiten, also auch die niedergelassenen Ärzte, mit ins Boot holen.

L.M.: Als niedergelassener Facharzt muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich im Alltag ei-gentlich nichts mit Arbeitsmedizinern zu tun habe. Das ist schade, gerade vor dem Hintergrund der ganzheitlichen Behandlung chronischer Erkrankungen. Von uns bekommt der Patient, die Medikamente, die er braucht, und das ist ja auch wichtig und richtig so. Aber eine umfangreiche Sozialanamnese durch uns ist gar nicht möglich. Wir kennen den Arbeitsplatz des Patienten nicht, während der Betriebsarzt genau hier ansetzen kann.

A.F.: Was kann man denn tun, um einen bes-seren Austausch zu erreichen?

S.L.: Da muss man viel früher anfangen, be-reits im Studium. Arbeitsmedizinisches Basiswissen ist Pflichtwissen eines jeden Arztes und muss im Medizinstudium vermittelt werden. Es gibt Hochschulstandorte, wo das toll läuft, und andere, wo die Studenten im gesamten Studium vielleicht vier Stunden Arbeitsmedizin hören. Wichtig ist, dass beide Seiten einander nicht als Konkurrenz sehen, sondern die Vorteile der besseren Vernetzung und Kooperation erkennen. Lassen Sie mich dafür ein Beispiel nennen: Ein Betriebsarzt stellt bei einem Mitarbeiter einen erhöhten Blutzuckerwert fest. Er wird sich dann nicht in den Feinheiten der Therapie verlieren, sondern den Patienten an seinen Hausarzt verweisen. Andersherum mag ein Hausarzt einen Diabetiker betreuen, bei dem es Schwierigkeiten bei der Einstellung des Blutzuckers gibt. Der Hausarzt kann keine umfangreiche Berufsanamnese machen, sondern der Arbeitsmediziner kann den Ein-fluss des Arbeitsplatzes auf den Diabetes, beispielsweise aufgrund von Schichtarbeit oder ungünstigen Pausenzeiten, am besten einschätzen. Diese Vernetzung ist sicher schwierig zu erreichen, aber man muss das anpacken. Und die Studie ist sicher ein ers-ter Schritt in diese Richtung.

L.M.: Das sehe ich genauso. Schon in der Ausbildung müsste sich viel tun. Wenn ich an meine eigene Studienzeit Ende der 1970er-Jahre zurückdenke: Damals hat die Arbeits-medizin faktisch keine Rolle gespielt. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich eine lange Liste von Gefahrstoffen lernen musste …

A.F.: Nehmen wir das Beispiel „entzündlicher Rückenschmerz“ – eines der beiden Krankheitsfelder aus dem Pilotprojekt. Welche Rolle können Betriebsärzte hier einnehmen? Was würden Sie sich in Bezug auf das Stich-wort „vernetzte Frühintervention“ vorrangig wünschen?

L.M.: Das Thema ist für das Projekt gut ge-wählt. Betriebsärzte haben sehr viel mit Patienten mit Rückenschmerzen zu tun und kennen sich da auch gut aus, gerade was die psychischen Ursachen angeht. Manchmal wird allerdings außer Acht gelassen, dass die Ursache auch entzündlich sein kann. Pa-tienten, die zu uns Rheumatologen kommen, haben ihre Beschwerden oft schon seit Jahren, ohne dass eine richtige Diagnose gestellt wurde. Dabei wäre eine Früherken-nung wichtig, denn dann hat man noch gute Therapiemöglichkeiten. Im Gegensatz zum degenerativen Rückenschmerz kann man einen entzündlichen Rückenschmerz durch Prävention nicht verhindern. Bei den Fortbildungsveranstaltungen war das Interesse der Arbeitsmediziner an diesem Krankheits-bild sehr groß – das ist erfreulich, da Betriebsärzte die Chance haben, Betroffene zeit-nah an den richtigen Facharzt zu verweisen.

S.L.: Wichtig ist allerdings festzuhalten: Be-triebsärzte müssen Grundkenntnisse haben, aber sie können nicht alles wissen – dafür ist das Gebiet der Medizin einfach zu umfangreich und dafür haben wir ja das Facharztsystem. Aus meiner Sicht haben Betriebsärzte eine wichtige Lotsenfunktion mit Zugang zu 43 Millionen Menschen. Die Frühintervention im Sinne einer Behandlung obliegt – abgesehen vom Akutfall – nicht den Betriebsärzten, sondern den Haus- und Fachärzten. Ich kann nur empfehlen, hier in Kooperationen zu handeln und die Vernetzung untereinander zu optimieren.

A.F.: Prof. Letzel, als Vizepräsident der Deut-schen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) haben Sie inten-siv am jüngst als Stellungnahme der DGAUM veröffentlichten Thesenpapier „Arbeitsmedizin 4.0“ mitgewirkt. Die erste These lautet: „Die Prävention muss zu einer tragenden Säule im Gesundheitssystem werden.“ Wie weit ist dieses Ziel schon erreicht?

S.L.: Das ist aus meiner Sicht der absolut zentrale Punkt und ich glaube, das Präven-tionsgesetz wird uns – und speziell den Arbeitsmedizinern – da weiterhelfen. Wobei man aufpassen muss: Das Wort Prävention klingt immer so gut, aber sie muss auch qualitätsgesichert werden. Welche Präven-tion bringt uns weiter? Welche schadet viel-leicht sogar eher?

A.F.: Mögen Sie auch hierfür wieder ein Beispiel nennen?

S.L.: Ein klassisches Beispiel ist das Prostatakrebs-Screening mittels PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs. Hier gibt es keinen gesicherten wissenschaftlichen Nachweis, dass die Frühbehandlung eines durch den PSA-Test und nachfolgende Untersuchungen erkannten Tumors tatsäch-lich einen Vorteil für die betroffenen Männer bietet. Oft schadet es sogar, wenn Betroffene falsch positiv diagnostiziert und unnötig behandelt werden. Trotzdem gibt es einige Interessensvertreter, die diesen Test im betriebsärztlichen Umfeld propagieren. Dagegen sind z. B. Raucherentwöh-nung sowie Ernährungs- und Bewegungsprogramme sicher zentrale Präventionsmaßnahmen, bei denen Betriebsärzte wichtige Beiträge leisten können. Allerdings gilt auch hier: Die individuelle Beratung sollte deutlich gestärkt werden, um die Einwirkungsmöglichkeit auf den Einzelnen zu ver-bessern. Es geht ja nicht darum, diejenigen Leute durch spezielle Angebote ins Fitnessstudio zu kriegen, die sowieso hingegangen wären.

L.M.: In Bezug auf die Prävention nehmen die Arbeitsmediziner sicher eine bedeutende Rolle ein. Sie haben ja die Chance, gesunde Menschen zu erreichen, während wir die Patienten erst zu sehen bekommen, wenn sie krank sind. Mein persönliches Fazit aus der Mitarbeit an dem Projekt ist daher, dass es wirklich sinnvoll wäre, in einen engeren Austausch mit Betriebsärzten zu kommen. Eine bessere Kommunikation wäre gut für den einzelnen Betroffenen und das Gesund-heitssystem insgesamt. Andererseits sind die zeitlichen Ressourcen bei allen begrenzt und man müsste sehen, wie sich das in der Praxis realisieren ließe.

A.F.: Vielen Dank für das Gespräch!

    Das Interview führte

    Anneke Fröhlich M.A.

    Freie Journalistin

    Neu-Revensdorf 19a

    24214 Lindau

    mail@anneke-froehlich.de