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Sensible Themen valide erheben

Pharmakologisches Neuro­enhancement in der Arbeitswelt

Einleitung

Das Thema „pharmakologisches Neuroenhancement“ (PN) beziehungsweise der Substanzkonsum zur kognitiven Leistungssteigerung wird vor dem Hintergrund von Berufskrankheiten, arbeitsphysiologischen Belastungen und besonderen Arbeitsplatzbedingungen oftmals als Randphänomen wahrgenommen und die dazugehörige Forschung im Dunkelfeld verortet. Dabei ist dieses so genannte „Hirndoping“ in der Arbeitswelt in mehrfacher Hinsicht von arbeitsmedizinischer Relevanz und Brisanz. Allerdings gestaltet sich die Erhebung so genannter sensibler Fragen, wie zum Beispiel zur missbräuchlichen Einnahme von Medikamenten und Drogen im Arbeitskontext, in der Forschung als schwierig und deren Prävalenz wird in empirischen Untersuchungen häufig unterschätzt. Um dieses Problem zu lösen, hat sich in der Vergangenheit ein Forschungsbereich um die Erhebung sensibler Fragen entwickelt. Dabei hat sich die Methode indirekter Befragungstechniken als valides Mittel herausgestellt, um solche Fragen, auch in der Arbeitswelt, zu untersuchen. Im folgenden Beitrag wird die Methode der Randomized-Response-Techniken hergeleitet und vorgestellt, um im Anschluss mittels ausgewählter Studien zu PN in der Arbeitswelt unter Verwendung unter anderem dieser Verfahren aufzuzeigen, dass es sich bei PN keinesfalls um ein Randphänomen in der Arbeitswelt handelt.

Sensible Forschungsfragen

Sensible Forschung oder auch sozial sensible Forschung befasst sich mit der Untersuchung von Fragen, bei denen ein positives („ja“) Antwortverhalten mit potenziellen negativen Konsequenzen beziehungsweise Nachteilen, entweder für den Befragten direkt oder für das befragte Untersuchungskollektiv als Ganzes, assoziiert ist (Sieber u. Stanley 1988; Lee 1993). Dies führt dazu, dass sensible Fragen auch bei anonymen empirischen Untersuchungen nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden und die Prävalenz von sensiblen Fragen/Themen somit systematisch unterschätzt wird (Lee u. Renzetti 1990; Dickson-Swift et al. 2009). Beispiele für sensible Fragen/Themen sind unter anderem häusliche Gewalt (Enosh 2005), sexuelle Neigungen und Gesundheit (Sollund 2008; Walls et al. 2010), politischer Aktivismus (Possick 2009) oder Doping im Sport (Dietz et al. 2013b, 2016a, 2018b). Da die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten und illegalen Drogen zum Neuroenhancement am Arbeitsplatz ebenfalls negative Konsequenzen, wie Abmahnung, Kündigung oder soziale beziehungsweise berufliche Ausgrenzung, zur Folge haben kann, ist die Forschung zu PN im Arbeitskontext der sensiblen Forschung zuzuordnen und das Thema dementsprechend zu behandeln.

Sensible Fragen erforschen

Bereits im Jahr 1965 postulierte Warner, dass Probandinnen und Probanden von Untersuchungen zu sensiblen Fragen eher die Wahrheit sagen, wenn ihnen durch die Befragungsmethodik absolute Anonymität zu­gesichert wird, und er stellte erstmals die Randomized-Response-Technik (RRT) vor (Warner 1965, 1971). Basierend auf der original RRT von Warner wurden im Laufe der Jahrzehnte verschiedenste RRTs entwickelt. Prominente Beispiele hierfür sich unter anderem das Unrelated Question Modell (Dietz et al. 2013a; 2018a,b; Greenberg et al. 1969), die Crosswise-Methode (Yu et al. 2008), die Item-Count-Technik (Dalton et al. 1994), die Forced-Response-Methode (Boruch 1971; Edgell et al. 1982), das Cheater-Detection-Modell (Pitsch et al. 2007) oder der Stochastic Lie Detector (Moshagen et al. 2012). Mittels dieser, auf Stochastik basierenden, indirekten Befragungstechniken wird den Testpersonen absolute Anonymität zugesichert, das bedeutet, bei Verwendung von RRTs kann zu keinem Zeitpunkt das Antwortverhalten eines Einzelnen nachvollzogen werden. Es kann lediglich für die Gesamtstichprobe (bei ausreichender statistischer Power; Ulrich et al. 2012) ein Schätzwert für die Prävalenz der sensiblen Frage beziehungsweise des sensiblen Themas berechnet werden. Eine Metaanalyse unter Einbezug von 38 RRT Validierungsstudien zeigt, dass RRTs validere Ergebnisse bei der Erforschung sensibler Fragen liefern, als so genannte direkte Befragungsmethoden (z. B. „herkömmliche“ anonyme Befragungen oder Interviews; Lensvelt-Mulders et al. 2005). Zur Vertiefung der Thematik zur Validität von RRTs sei zudem die Arbeit von Moshagen et al. (2014) empfohlen .

Abb. 2:  Formeln zur Berechnung der Prävalenz für die sensible Frage (a) sowie des 95%-Konfidenzintervalls (b). Dietz et al. 2013a,b

Abb. 2: Formeln zur Berechnung der Prävalenz für die sensible Frage (a) sowie des 95%-Konfidenzintervalls (b). Dietz et al. 2013a,b

Die Unrelated-Question-Technik (UQM) als Beispiel für RRTs

Bei der UQM werden die Befragten mittels eines „Randomisierers“ (z. B. Münze, Würfel, Kartenspiel) zufällig auf eine von zwei Fragen geleitet, die wahrheitsgemäß beantwortet werden soll: eine neutrale (nichtsensible) Frage (A) oder eine sensible Frage (mit dem sensiblen Item, z. B. PN; B). Die Wahrscheinlichkeit, mittels des Randomisierers zur sensiblen Frage geleitet zu werden beträgt p, die Wahrscheinlichkeit zur neutralen Frage geleitet zu werden beträgt 1–p (➥ Abb. 1). Zum Beispiel wurden die Befragten früherer Studien (Dietz et al. 2013a,b) zur Erhebung der Prävalenz von PN gebeten, zur Randomisierung an einen beliebigen Geburtstag zu denken. Wenn dieser erdachte Geburtstag in den ersten zehn Tagen (1.–10.) eines Monats lag, wurden sie gebeten Frage (A) zu beantworten, anderenfalls Frage (B). Bei zwölf Monaten, unter Berücksichtigung des Schaltjahres und angenommener Normalverteilung der Geburtstage in der Bevölkerung ist 1–p = 120/365,25 und p = 245,25/365,25, also etwa ein Drittel und zwei Drittel. Des Weiteren muss die neutrale Frage ebenfalls mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit mit „ja“ beantwortet werden. Diese Wahrscheinlichkeit bezeichnet man als πn. In bereits genannten früheren Studien lautete die neutrale Frage: „liegt der Geburtstag, an den Sie eben gedacht haben, in der ersten Jahreshälfte, also vor dem 1. Juli?“. Somit liegt die Wahrscheinlichkeit, die neutrale Frage mit „ja“ zu beantworten, bei πn = 181,25/365,25, also etwa bei ein halb. Als Antwortmöglichkeit steht den Befragten nur „ja“ oder „nein“ zur Verfügung. Da die Forscher nicht wissen können, an welchen Geburtstag die Testpersonen gedacht haben, ist nicht nachvollziehbar, ob die gegebene Antwort („ja“ oder „nein“) sich auf die neutrale oder sensible Frage bezieht und somit ist die Befragung absolut anonym. Mittels der bekannten Wahrscheinlichkeiten
p und πn kann aller­dings für die Gesamtstichprobe unter Verwendung der For­mel a in ➥ Abb. 2 die Prävalenz für die sensible Frage (πˆ s) geschätzt werden. Der Buchstabe a beschreibt dabei das Verhältnis von ja-Antworten zur Gesamt­stichprobe. Das 95%-Konfidenzintervall kann mittels Formel b berechnet werden. Die Abkürzung n steht hierbei für die Stichprobengröße.

Studien zur Prävalenz von PN in der Arbeitswelt unter Verwendung von unter anderem RRTs

Erstmals in der akademischen Arbeitswelt nachgewiesen wurde PN von Maher (2008). Im Rahmen einer Befragung von 1400 Leserinnen und Lesern der wissenschaftlichen Zeitschrift „Nature“ – und damit bezogen auf eine Stichprobe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – stellte er fest, dass etwa ein Fünftel der Befragten schon einmal Ritalin® (Methylphenidat), Provigil® (Modafinil) oder Betablocker zum Zweck der kognitiven Leistungssteigerung eingenommen hat.

Eine der ersten großen deutschen Befragungen mittels RRT wurde in der Berufsgruppe der Chirurginnen und Chirurgen durchgeführt (Franke et al. 2013). Hierbei wurden auf fünf internationalen Chirurgentagungen 3306 Fragebögen unter der Verwendung der UQM zur Schätzung der Prävalenz von verschreibungspflichtigen Medikamenten und illegalen Drogen zum Neuroenhancement sowie Antidepressiva zur Stimmungsverbesserung verteilt. Insgesamt 1145 gültige Fragebögen konnten zur Analyse herangezogen werden, was einem Rücklauf von 36,4 % entsprach. Rund 20 % der Befragten gaben an, jemals eine verschreibungspflichtige oder illegale Substanz zu Neuroenhancement-Zwecken konsumiert zu haben. Für den Konsum von Antidepressiva zur Verbesserung der Stimmung waren es immerhin noch rund 15 %. Mittels multivariater Analysen konnten zudem drei Faktoren herausgestellt werden, die den Konsum von PN positiv bedingen, also das relative Risiko für deren Konsum erhöhen: „Leistungsdruck auf der Arbeit“, „Leistungsdruck im Privatleben“ und das „durchschnittliche Einkommen“.

Im Rahmen einer weiteren großen Studie in Deutschland (n = 1021) zu PN bei Wirtschaftswissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern (Dietz et al. 2016b) wurde in Kooperation mit der Zeitschrift „Handelsblatt“ bei einer Online-Umfrage unter anderem die Einnahme verschreibungspflichtiger und illegaler Substanzen zum Neuroenhancement erfragt. Das Besondere dieser Studie ist, dass nicht nur Substanzgruppen, sondern der Konsum einzelner Substanzen erhoben wurde. Von den Befragten gaben 19,0 % an, eine verschreibungspflichtige und illegale Substanz zum Neuroenhancement konsumiert zu haben. Antidepressiva und illegale Amphetamine mit jeweils 7,2 % und 7,0 % wurden am häufigsten konsumiert, gefolgt von Kokain, Ephedrin und Ritalin (6,5 %, 5,3 % und 5,1 %). Mittels binär-logistischer Regressionsanalysen wurden zudem Prädiktoren für den Konsum von verschreibungspflichtigen und illegalen Substanzen berechnet. Die Variable „Neugier“ hatte den stärksten signifikanten Einfluss, gefolgt von „Stimmungsverbesserung“, „um sicherer aufzutreten“, „Stress/Leistungsdruck“ und „Termindruck“. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Motive, zu verschreibungspflichtigen oder illegalen Neuroenhancern zu greifen, weitaus vielfältiger sind und den Arbeitskontext über die klassischen Motive zum PN wie Verbesserung der Wachheit, Konzentration und Aufmerksamkeit etc. weiter auffächern. Unter befragten Lehrerinnen und Lehrern zeigte sich ein ähnliches Bild. Mittels RRT schätzten Wolff et al. bei n = 723 Befragten, dass 26,2 % in den letzten 12 Monaten eine verschreibungspflichtige Substanz zum Neuroenhancement eingenommen haben. Verglichen dazu betrug die Prävalenz bei den Befragten, die nicht im Lehrerberuf tätig waren, lediglich 0,3 % (Wolff et al. 2016).

Insgesamt haben knapp drei Millionen Deutsche schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente genutzt, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein oder um Stress abzubauen. Das geht aus dem DAK-Gesundheitsreport (2015) „Update: Doping am Arbeitsplatz“ hervor. Demnach haben 6,7 % der Berufstätigen das so genannte Hirndoping wenigstens schon einmal praktiziert. In einem vergleichbaren DAK-Report waren es 2008 noch 4,7 %.

Fazit und Ausblick

Erste Studien unter Verwendung unter anderem von RRTs haben gezeigt, dass PN in seinen Häufigkeiten und bedingenden Faktoren kein randständiges Phänomen, sondern als Handlungswahl fester Bestandteil der Arbeitswelt geworden ist. Dies konnte vor allem in akademischen Kollektiven aufgezeigt werden. Gerade in den nichtakademischen Berufen besteht allerdings nach wie vor enormer Forschungsbedarf um das Thema des PN. Dafür bieten sich neben Befragungen mittels RRT weiterhin auch qualitative Forschungsansätze in Form von Einzel- oder Fokusgruppen-Interviews an, um ursächliche Faktoren und Handlungswahlen noch tiefenschärfer zu ergründen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

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Kontakt

Priv.-Doz. Dr. phil. Pavel Dietz
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Obere Zahlbacher Straße 67; 55131 Mainz

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