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Weiterbildungsboom in der Arbeitsmedizin

Die Arbeitswelt ist im Wandel – Anforderungen an die Erhaltung der gesunden Beschäftigungsfähigkeit wachsen

Die ca. 45 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland stellen das größte medizinisch betreute Präventionssetting in unserer Gesellschaft dar. Der demografische Wandel, die zunehmend älter werdenden Belegschaften und der vielerorts spürbare Fachkräftemangel zeigen die enormen Herausforderungen, die in dieser Lebenswelt zu bewältigen sind. Dabei stellen die zunehmende Arbeitsverdichtung und die digitale Transformation in der Arbeitswelt immer größere Anforderungen an die Erhaltung der gesunden Beschäftigungsfähigkeit. Hinzu kommt, dass allein durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters der Anteil der chronisch erkrankten Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer zunimmt, die besonders eng betriebsärztlich beraten werden sollten.

Aktuell überstrahlen die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie diese in der Arbeitswelt zunehmend drängenderen He­rausforderungen. Spätestens nach der Pandemie müssen diese in der arbeitsmedizinischen Vorsorge aber wieder aufgegriffen werden. Zusätzlich gilt es, die Erkenntnisse über das mobile Arbeiten im Homeoffice auszuwerten, um so eine optimierte Verteilung von Homeoffice und Präsenzzeiten am Arbeitsplatz zu finden.

Der arbeitsmedizinische Betreuungsbedarf in Deutschland

Die Bundesärztekammer hat 2021 eine Task Force zum arbeitsmedizinischen Betreuungsbedarf eingerichtet und den Sachstand sowie Perspektiven in einem Positionspapier dargestellt (Kraus et al. 2021). Es bestehen divergierende Meinungen darüber, wie viele Betriebsärztinnen und -ärzte für die Versorgung in Deutschland zur Verfügung stehen. Schätzungen reichen von wenigen Tausenden bis zu über 10.000 Arbeits- und Betriebsmedizinerinnen und -medizinern. Zu der diskutierten Unterversorgung wird von einzelnen Autorenteams auch eine Zunahme des Mangels an betriebsärztlichen Versorgungskapazitäten prognostiziert. Dieser Artikel möchte anhand aktueller Zahlen die Nachwuchssituation an den arbeitsmedizinischen Akademien und Landesärztekammern beschreiben, die eine historisch hohe Teilnehmendenzahl an den arbeitsmedizinischen Weiterbildungskursen beobachten.

Die (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 ermöglicht einem größeren Anteil der Ärzteschaft den Zugang zum Fachgebiet Arbeits- und Betriebsmedizin

Im Jahr 2014 wurde eine von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) beauftragte Studie zum arbeitsmedizinischen Betreuungsbedarf und zu verfügbaren betriebsärztlichen Ressourcen publiziert (Barth et al. 2014). Diese prognostizierte auf einer Datenbasis, die den betrieblichen Bedarf und das betriebsärztliche Angebot bis 2011 untersuchte, einen grundsätzlichen Mangel an betriebsärztlicher Versorgungskompetenz. Die Publikation intensivierte die innerärztliche Diskussion zu den fachlichen Voraussetzungen für die Erlangung der arbeitsmedizinischen beziehungsweise betriebsmedizinischen Qualifikationen. Als Ergebnis wurde auf dem Deutschen Ärztetag 2018 in Erfurt die Novelle der (Muster-)Weiterbildungsordnung beschlossen, obwohl sich die Anzahl der Facharztanerkennungen seit dem Jahr 2000 nahezu verdoppelt hatte. Die Kriterien zur Erlangung der Fachgebiets- beziehungsweise Zusatzbezeichnung wurden verändert und damit ein Meilenstein in der Geschichte der arbeitsmedizinischen Weiterbildung gesetzt. Mussten angehende Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner bislang mindestens zwei ihrer fünf Facharztjahre in der „Allgemeinmedizin“ oder „Inneren Medizin“ klinisch tätig sein, so können nun alle medizinischen Fachrichtungen, die mit der unmittelbaren Patientenversorgung befasst sind, als Weiterbildungszeit angerechnet werden. Außerdem kann die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ nunmehr nach 1200 Stunden betriebsärztlicher Tätigkeit unter Befugnis oder neun Monaten Weiterbildung an einer Weiterbildungsstätte erlangt werden. Die Weiterbildung kann parallel auch mit maximal 13 Stunden Nebentätigkeit pro Woche bei einem vollen Kassenarztsitz erfolgen. Da die von der Bundesärztekammer erarbeitete und 2018 verabschiedete (Muster-)Weiterbildungsordnung für die Landesärztekammern einen nur empfehlenden Charakter hat, musste diese in den darauffolgenden Jahren in die Weiterbildungsordnungen der jeweiligen Landesärztekammern rechtsverbindlich überführt werden. Diese ermöglichen jetzt einem deutlich größeren Anteil der deutschen Ärzteschaft den Zugang zum Fachgebiet Arbeits- und Betriebsmedizin.

Das „Kursbuch Arbeitsmedizin/­Betriebsmedizin“ definiert die ­bundesweit zu vermittelnden Inhalte

Auf der Grundlage der (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018, die einen großen Schwerpunkt auf die Erreichung von klar definierten Lernzielen und deren Kompetenzvermittlung legt, wurde das „Kursbuch Arbeitsmedizin/Betriebsmedizin“ unter der Mitwirkung der Akademien für Arbeitsmedizin, der Landesärztekammern und der Bundesärztekammer überarbeitet und im Jahre 2020 veröffentlicht. Das Kursbuch definiert die bundesweit zu vermittelnden Inhalte und erleichtert es, einzelne Kursteile an unterschiedlichen Akademien und Landesärztekammern absolvieren zu können. Die 360-stündige Kurs-Weiterbildung ist fester Bestandteil sowohl der Facharzt- als auch der Zusatz-Weiterbildung und muss vor der jeweiligen Fachprüfung erfolgreich belegt worden sein. Im Zuge der Neugründung der arbeitsmedizinischen Akademien in Hamburg/Lübeck (2018) und in Mainz (2020) können geografische Lücken geschlossen werden, so dass die theoretischen Grundlagen für die arbeitsmedizinische Fachkunde mittlerweile in zehn Städten deutschlandweit erworben werden können.

Methodik zur quantitativen Querschnittserhebung teilnehmender Ärztinnen und Ärzte an allen arbeitsmedizinischen Weiterbildungsakademien und Landesärztekammern

Die arbeitsmedizinischen Akademien in Deutschland mussten im Zuge der COVID-19-Pandemie ihre Weiterbildungskurse ad hoc auf digitale Lehre beziehungsweise teilweise hybride Kursformate (Präsenzunterricht und digitale Lehre) umstellen. Dies stellte eine große Herausforderung an die Organisation, die Lehrenden wie auch an die Weiterzubildenden dar, die in dieser Situation ein hohes Maß an Flexibilität und Engagement zeigten.

Zur quantitativen Querschnittserhebung der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten an allen neun arbeitsmedizinischen Weiterbildungsakademien und Landesärztekammern in Deutschland (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg/Lübeck, Hessen, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Westfalen-Lippe) wurden die Akademien sowohl im Januar 2021 als auch im Mai 2021 (Update) kontaktiert. Die Akademien wurden telefonisch sowie per E-Mail zu den Teilnahmezahlen aller Kurse aus den Jahren 2020 und 2021 befragt. In demselben Zeitraum wurden die arbeitsmedizinischen Weiterbildungskurse hinsichtlich der novellierten Weiterbildungsordnung von 2018 inhaltlich und organisatorisch angepasst und auf die neuen Bezeichnungen umgestellt.

Im Jahr 2021 war ein Anstieg der Teilnahmeanzahl in allen arbeitsmedizinischen Kursen (Module I–VI) zu verzeichnen

An den arbeitsmedizinischen Kursen nahmen zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 (Kursblöcke A1 bis C2) durchschnittlich n = 50 Weiterzubildende teil (Spannweite R = 27–114). Aufgrund von teilweise pandemiebedingten Ausfällen der Kurse B1, C1 und C2 war die Gesamtzahl aller Teilnehmenden über alle Akademien hinweg in diesen Kursen am geringsten (B1: n = 338, C1:
n = 313, C2: n = 296). An dem Kurs B2 nahmen hingegen die meisten Personen über alle neun Akademien teil (n = 422). Unterschiede in der Anzahl aller Teilnehmenden an den arbeitsmedizinischen Kursen zeigten sich auch zwischen den Akademien. An den arbeitsmedizinischen Kursen der Akademie A nahmen insgesamt 25,51 % aller Teilnehmenden im Jahr 2020 teil (n =  560). Mittlere Teilnahmequoten zeigten sich für Akademie B (13,58 %, n = 298), Akademie F (11,98 %,
n = 263) und Akademie C (10,39 %, n = 228). Die geringsten Teilnahmequoten wurden bei Akademie G (6,61 %, n = 145) und Akademie H (6,97 %, n = 153) erhoben. ➥ Tabelle 1 stellt die Anzahl der Teilnehmenden an allen arbeitsmedizinischen Kursen im Jahr 2020 dar.

An den arbeitsmedizinischen Kursen nahmen im zweiten Pandemiejahr 2021 (unter Beachtung der neuen Musterweiterbildungsordnung: Modul I–VI) durchschnittlich n = 66 Weiterzubildende teil (Spannweite R = 28–120). Im Jahr 2021 wurden insgesamt weniger Kurse pandemiebedingt abgesagt, jedoch ist die Gesamtzahl aller Teilnehmenden für diese Kurse am geringsten (Modul IV: n = 477, Modul III: n = 548). Im Jahr 2021 nahmen die meisten Personen über alle neun Akademien hinweg an Modul V teil (n = 582). Im Vergleich zum Jahr 2021 nahmen insgesamt an allen Kursen mehr Personen teil als im Jahr 2020. Ein Anstieg an der Gesamtzahl der Teilnehmenden über alle arbeitsmedizinischen Kurse hinweg zeigte sich auch pro Akademie: Die meisten Teilnehmenden im Jahr 2021 nahmen ebenso an den arbeitsmedizinischen Kursen der Akademie A teil (21,96 %,
n = 719). Ebenfalls hohe Teilnahmequoten zeigten sich für Akademie B (17,59 %, n = 576) und Akademie F (11,33%, n = 371). Die meisten Akademien konnten die Teilnahmequoten an ihren arbeitsmedizinischen Kursen zwischen beiden Jahren drastisch erhöhen; der Anstieg fiel lediglich bei Akademie D (2020: n = 182, 2021: n = 221) und Akademie H (2020: n = 153, 2021: n = 172) geringer aus. An beiden Akademien wurden auch im Jahr 2021 die geringsten Teilnahmequoten verzeichnet (Akademie D: 6,75 %, n = 221; Akademie H: 5,25 %, n = 172). ➥ Tabelle 2 stellt die Anzahl der Teilnehmenden an allen arbeitsmedizinischen Kursen im Jahr 2021 dar.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse der quantitativen Befragung aller neun arbeitsmedizinischen Weiterbildungsakademien in Deutschland, dass im Jahr 2020 an den deutschlandweiten Kursen (Teilblöcke A1 bis C2) n = 2195 Kursteilnahmen verzeichnet wurden. Im Jahr 2021 war ein Anstieg der Teilnahmezahl auf n = 3274 zu verzeichnen (Module I–VI).

Tabelle 2:  Anzahl der Teilnehmenden an arbeitsmedizinischen Kursen im Jahr 2021

Tabelle 2: Anzahl der Teilnehmenden an arbeitsmedizinischen Kursen im Jahr 2021

Fazit

Die Novellierung der 2018 verabschiedeten (Muster-)Weiterbildungsordnung und die Etablierung der neuen Weiterbildungskurse in Hamburg/Lübeck und Mainz hat eine erfreuliche Entwicklung in den Teilnahmezahlen der arbeitsmedizinischen Pflichtkurse induziert. Auf Grundlage der quantitativen Querschnittserhebung der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte an allen neun arbeitsmedizinischen Weiterbildungsakademien und Landesärztekammern in Deutschland ist davon auszugehen, dass im Jahr 2021 mehr als 500 Ärztinnen und Ärzte die Module I bis VI der arbeitsmedizinischen Grundlagenkurse absolviert haben. Nach Angaben der Kursveranstalter bestehen darüber hinaus an einzelnen Akademien Wartelisten.

Da eine Kursteilnahme kostenpflichtig ist, macht diese üblicherweise nur dann einen Sinn, wenn damit zugleich auch eine fachliche Weiterbildung bei Weiterbildungsbefugten verbunden wird. Egal, wie der betriebsmedizinische Versorgungsbedarf und das betriebsärztliche Angebot momentan eingestuft werden, zeigen die aktuellen Statistiken aus den Weiterbildungskursen, dass das Fachgebiet deutlich an Attraktivität gewonnen hat. Sollte sich die Nachfrage nach Weiterbildungskursen und damit die Anzahl der Weiterbildungsassistentinnen und -assistenten auf diesem hohen Niveau stabilisieren, so ist weiterhin mit einer deutlichen Zunahme der Anzahl von Facharztanerkennungen zu rechnen. Mittel- bis langfristig wird dieser dazu beitragen, den in der DGUV Vorschrift 2
definierten Betreuungsbedarf auf Grundlage des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG) auf alle Betriebsgrößen auszudehnen.

Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Barth C, Hamacher W, Eickholt C: Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland. Hrsg. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2014. http://www.baua.de/dok/4964402 (zuletzt abgerufen am: 16.02.2022).

Kraus T, Panter W für die Task Force „Arbeitsmedizin“ bei der Bundesärztekammer: Evaluation und Monitoring der arbeitsmedizinischen Versorgung. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2021; 56: 473–479.

doi:10.17147/asu-1-182136

Kernaussagen

  • In der Arbeitswelt wächst der Bedarf an betriebsmedizinischer Betreuung.
  • Mit der Novelle der (Muster-)Weiterbildungsordnungen wurden die Kriterien zur Erlangung der Fachgebiets- bzw. Zusatzbezeichnung verändert.
  • Im Jahr 2021 ist deutschlandweit mit über 500 Teilnehmenden pro Modul ein deutlicher Anstieg der Teilnahmezahl in allen arbeitsmedizinischen Weiterbildungskursen zu verzeichnen.
  • Die historisch hohe Teilnahmezahl zeigt, dass die Weiterbildung in diesem Fachgebiet ­deutlich an Attraktivität gewonnen hat.
  • KOAUTORIN/KOAUTOR

    Ilona Efimov, M. Sc.
    Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM), Hamburg

    i.efimov@uke.de

    Prof. Dr. med. Thomas Kraus
    Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Uniklinik der RWTH Aachen

    tkraus@ukaachen.de

    Kontakt

    Univ.-Prof. Dr. med. ­Volker Harth, MPH
    Universitätsklinikum ­Hamburg-Eppendorf (UKE); Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM); Seewartenstraße 10; 20459 Hamburg

    Foto: C. Ketels / UKE

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