Häufig wenden sich im Rahmen der betriebsärztlichen Sprechstunde betroffene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Betriebsarzt. Alternativ treten auch Führungskräfte, Betriebsleiter oder Personalleiter an Betriebsärzte heran und bitten um Unterstützung beim Umgang mit psychisch und psychosomatisch erkrankten Mitarbeitern. Inhaltlich geht es dabei um ein Bündel von unterschiedlichen Fragestellungen. Einmal ist es eine Neuerkrankung, die der hellhörigen Führungskraft durch Verhaltensänderungen aufgefallen ist. In anderen Fällen gibt es bereits eine diagnostische oder therapeutische Vorgeschichte, die aus irgendeinem Grund unterbrochen wurde und nun in besonderen betrieblichen Belastungssituationen wieder relevant wird.
Zwar stellen aufmerksame Führungskräfte fest, dass es einem ihrem Mitarbeiter nicht gut geht, allerdings sind sie zumeist überfordert mit der Frage der weiterführen-den Maßnahmen. Für den Betrieb und insbesondere den Betriebsarzt stellt sich dann die Frage: Wie können wir der betroffenen Mitarbeiterin / dem Mitarbeiter qualifizierte Unterstützung anbieten? Kann durch frühzeitige Intervention einer langdauernden Erkrankung und deren Chronifizierung entgegengewirkt werden?
Konflikte am Arbeitsplatz gehören häu-fig zum Einstiegsszenario. Sö können sich Spannungen beispielsweise an einer krankheitsbedingt verminderten Leistungsfähigkeit entzünden, oder an erhöhten Fehlzeiten. Auch zwischenmenschliche Störungen im Arbeitsteam können ein Auslöser sein.
Von der Verhaltens- zur Verhältnisprävention
Betriebe, die bereits mehrfach Erfahrungen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen gemacht haben, fragen auch nach Möglichkeiten der bestmöglichen Vorbeugung gegen solche Situationen. Konkrete Fragen sind beispielsweise:
- Was sind evidenzbasierte gute Arbeitsbedingungen?
- Wie müssen wir die Arbeitsbedingun-gen einrichten, damit Mitarbeiter möglichst frei von arbeitsbedingten Erkrankungen bleiben?
- Was sind häufige und wichtige Frühsym-ptome, um ggf. eine beginnende Chronifizierung bei bislang unbehandelten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen nicht zu übersehen?
- Wie kann ein betroffener Mitarbeiter un-ter Umständen trotz Schamgefühlen und der Furcht vor Stigmatisierung zu einer notwendigen psychosomatischen oder psychotherapeutischen Beratung konkret motiviert werden?
- Was sind die bestmöglichen Rahmenbedingungen für eine gelingende Wiedereingliederung nach längerem Arbeitsausfall?
In dieser Situation haben im Jahr 2011 meh-rere Institutionen in Baden-Württemberg be-schlossen, dass sie die adäquate Versorgung von psychosomatisch erkrankten Arbeitnehmern durch Austausch und Vernetzung verbessern möchten. Der erste Schritt war die Gründung einer „Werkstatt seelische Gesundheit“. Diese ist zunächst einmal nichts anderes als eine regelmäßige Gesprächsplattform zum Austausch der verschiedenen Perspektiven.
Folgende Partner waren bei der Gründung vertreten:
- die Arbeitsmedizin, vertreten durch Betriebsärzte des Verbandes der Deutschen Betriebs- und Werksärzte e. V. (VDBW) sowie das Institut für Arbeitsmedizin in Tübingen,
- die Psychosomatik, vertreten durch die psychosomatische Sonnenbergklinik Klinik und die psychosomatische Universitätsklinik Ulm,
- die Versorgungsforschung, vertreten durch das Institut für Arbeitsmedizin in Tübingen und die Ulmer und Stuttgarter Psychosomatische Klinik,
- weiterhin die sozial- und arbeitsmedizinische Akademie Baden-Württemberg und das Sozialministerium Baden-Würt-temberg.
Neuer Denk- und Sprechraum für verschiedene Gesundheitsakteure
Es ist nicht trivial, wenn die Vertreter dieser unterschiedlichen Einrichtungen ihre jeweiligen – teils langjährigen aber doch sehr unterschiedlichen – Perspektiven zusam-mentragen und über Angebots- und Versorgungsformen der Zukunft sprechen. Eine psychosomatisch wirksame Intervention ist komplexer in das Umgebungssetting ein-gebunden als beispielsweise die Gabe eines Pharmakons. Daher ist ein gemeinsamer Denk- und Sprechraum eine überaus wich-tige Voraussetzung für gelingende Interaktionen in einer „Werkstatt seelische Gesundheit“.
Aus dieser Werkstatt heraus wurde gemeinsam die Zusammensetzung von Programm und Referenten eines ersten etwa halbjährigen Kurses „Psychosomatische Grundversorgung für Arbeitsmediziner“ (sechs Wochenenden) in Baden-Württemberg entworfen, durchgeführt und qualitativ evaluiert. Teilnehmer des Kurses sind im weiteren Verlauf zu Teilnehmern der Werkstatt geworden.
Als ein wesentliches Ergebnis der Werkstatt kann schon jetzt die Annäherung der initial entfernten Sphären von Arbeitsmedizinern und Psychotherapeuten vermerkt werden. Weitere Themen in nächster Zu-kunft werden sein:
- kontinuierliche Weiterentwicklung der gegenseitigen Perspektivenübernahme,
- Rahmenbedingungen der Kooperation,
- Organisation, Finanzierung, Evaluation und Kommunikation von psychosomatischen Sprechstunden im Betrieb oder aus dem Betrieb heraus,
- Werkstatt-Treffen mit fachlichen Inputs und Diskussionen zu Erkrankungen und Arbeitsbedingungen,
- regionale und fachlich gemischte (Arbeitsmedizin/Psychosomatik) Qualitätszirkel,
- Entwicklung des Angebotes zur Weiterbildung von Arbeitsmedizinern in fachgebundener Psychotherapie.
Das übergeordnete Ziel ist die allmähliche Etablierung eines interdisziplinären regiona-len Netzwerkes, innerhalb dessen und auf dessen Grundlage verschiedenste zukünftige Fragestellungen zur Weiterentwicklung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention an der Schnittstelle von Arbeit und Ge-sundheit bestmöglich bearbeitet werden können ( Abb. 1).
Info
Beteiligte Institutionen und Autoren
- Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung Universitätsklinik Tübingen – Prof. Dr. med. Monika A. Rieger
- Ministerium für Arbeit und Sozial-ordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg – Dr. med. Gerhard Bort
- Sonnenbergklinik Stuttgart – Priv.-Doz. Dr. med. Michael Hölzer
- Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm – Prof. Dr. med. Harald Gündel, Dr. med. Eva Rothermund
- Sozial- und Arbeitsmedizinische Akademie Baden-Württemberg e. V. (SAMA) – Dr. med. Dipl.-Chem. Gerd Enderle
- Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) LV Baden und Württemberg – Dr. med. Michael Sehling (LV Baden), Dr. med. Christine Kallenberg, Dr. med. Stephan Schlosser (LV Württemberg)
Für die Autoren
Dr. med. Stephan Schlosser
Leiter Gesundheitszentrum
TRUMPF GmbH + Co. KG
Johann-Maus-Straße 2
71254 Ditzingen