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Drei Jahre Netzwerk Epilepsie und Arbeit: eine Bilanz

Am runden Tisch im Betrieb muss genau definiert werden, welche Unfallfolgen an welchen Arbeitsplätzen und bei welchen Handgriffen auftreten könnten, wenn mit einem epileptischen Anfall gerechnet werden muss. Dazu ist zum Beispiel eine genaue Anfallsbeschreibung notwendig (Beispiel: „Der Patient hält im etwa zweiminütigen Anfall bei eingeschränkten Bewusstsein inne und nestelt an der Kleidung“) und eine genaue Beschreibung der bei einem epileptischen Anfall als „gefährlich“ einzuschätzenden Tätigkeit eingedenk der Bewertung der möglichen Verletzungsfolgen – sind diese reversibel oder nicht?

Wie notwendig die multidisziplinäre Mitberatung durch den Epileptologen, den Arbeitsmediziner/Betriebsarzt und der Fachkraft für Arbeitssicherheit ist, wird am oben genannten Beispiel deutlich. Der Epileptologe muss über Diagnose, Therapie, Behandlungsstand, Anfallsprognose, Anfallsphänomenologie, medikamentöse Nebenwirkungen und über (psychiatrische) Komorbiditäten differenziert Auskunft geben (s. dazu auch Knieß 2012). Der Arbeitsmediziner/Betriebsarzt muss die berufsgenossenschaftlichen Richtlinien (besonders die „BGI 585“, siehe Info) zur Anwendung bringen und gemeinsam mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit die Risiken im Betrieb erörtern. Bei Bedarf müssen Maßnahmen zur Arbeitssicherheit ergriffen werden. Weiter müssen bei Bedarf das Integrationsamt und die Träger der beruflichen Rehabilitation um Unterstützung gebeten werden, etwa, wenn Maßnahmen der beruflichen oder medizinischen Rehabilitation sinnvoll erscheinen oder wenn kostenintensive Maßnahmen für die behindertengerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes geprüft werden müssen (vgl. Kreis 2012). Das Projekt „Netzwerk Epilepsie und Arbeit (NEA)“ hilft, diesen interdisziplinären Diskurs zu organisieren.

Mit dem Ziel, die berufliche Beratung von epilepsiekranken Arbeitnehmern zu optimieren und bundesweit Fachteams zu dem Thema „Epilepsie und Arbeit“ zu entwickeln, ist das Projekt am 01. 03. 2010 gestartet. Gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Inneren Mission München war die Finanzierung für 3 Jahre gesichert. Mit dem für ein Bundesprojekt vergleichsweise kleinen Personalschlüssel von 110 Wochenstunden bei vier Mitarbeitern konnte viel erreicht werden: Neben der Fachteamentwicklung fanden bis Mai 2013 insgesamt 356 von der Projektzentrale München durchgeführte Klientenberatungen statt. Darunter fallen sehr zeitintensive Beratungen mit Organisation und Durchführung von Betriebsbegehungen und runden Tischen im Betrieb, aber auch telefonische Beratungen, E-Mail- sowie kollegiale Beratungen. Dabei umfassen die Beratungen über 150 Berufsbilder. Bei Berufen mit einem hohen Selbstgefährdungspotenzial sind die Anfragen von SchreinerInnen am häufigsten, bei Berufen mit Fremdgefährdungspotenzial die von ErzieherInnen.

Fachteams: In der Vernetzung liegt die Lösung

Die Fachteams Epilepsie und Arbeit unterstützen die Epilepsiebetroffenen und die Betriebe darin, die Problematik differenziert wahrzunehmen und Lösungen zu finden, die nicht nur arbeitsmedizinisch belastbar, sondern auch der Inklusion aller Beteiligten dienen (ein Fallbeispiel hierzu bei Brodisch 2012). Es gilt das Bemühen, komplizierte Sachverhalte „zu Ende zu denken“ – dabei wird der kollegiale Austausch als wichtiges Hilfsmittel des Denkens geschätzt. Das Netzwerk Epilepsie und Arbeit ordnet und bündelt darüber hinaus fachliches Wissen und Erfahrungswissen und stellt dieses auf Anfrage umfänglich zur Verfügung.

Anerkannte Mitarbeitende aus den Bereichen Epileptologie, Arbeitsmedizin, Arbeitssicherheit, Integration und Rehabilitation, Psychiatrie und Psychologie, Sozialpädagogik und Recht arbeiten in den 23 regionalen Fachteams des Netzwerks Epilepsie und Arbeit mit. Bis Ende Dezember konnten 309 Fachteammitglieder verzeichnet werden, die allesamt dreitägige Workshops zu Themen der Epileptologie, Arbeitssicherheit, Recht etc. besucht haben. Hierzu referierten insgesamt 27 Referenten, die teilweise auch zu dem Kreis der Fachteammitglieder gehören.

Interdisziplinarität schafft Vielfalt und Praxisnähe

Am häufigsten nahmen Mitarbeiter aus den Integrationsfachdiensten an den Workshops teil, sowohl aus dem vermittelnden als auch aus den berufsbegleitenden Diensten. An zweiter Stelle in der Teilnahmehäufigkeit stehen Neurologen (hauptsächlich aus neurologischen, aber auch aus Reha-Kliniken). Die Integrationsämter waren ebenfalls mit zahlreichen Mitarbeitern aus dem Kündigungsschutz und der technischen Beratung vertreten. Danach folgen Mitarbeiter der Epilepsieberatungsstellen (diese gibt es jedoch nicht in allen Bundesländern!), Mitarbeiter aus den Kliniksozialdiensten sowie Betriebsärzte. Weiterhin nahmen an den Workshops teil: Vertreter der Selbsthilfe, Berater von der Agentur für Arbeit, Mitarbeitende aus Berufsbildungs- und -förderungswerken, Neuropsychologen etc. Gerade diese Interdisziplinarität und die zahlreichen Beiträge der Teilnehmer machten die Workshops sehr lebendig und praxisnah.

Wie schaut die regionale Verteilung der Fachteammitglieder aus? In  Abbildung 1 („Die Fachteam-Landkarte“) werden die Standorte der einzelnen Netzwerkpartner in ihrem jeweiligen Bundesland gezeigt. Für die Stadtstaaten Hamburg und Bremen wurde dabei nur ein einziger Punkt gesetzt. Allein in Bayern wurde wegen der Großräumigkeit und dem Vorhandensein von Beratungsstellen in jedem der sieben Regierungsbezirke ein Fachteam entwickelt. Auch in Niedersachsen und in Baden-Württemberg koordinierten sich wegen der großen räumlichen Entfernung jeweils zwei Fachteams (Niedersachsen Ost und West, Baden und Württemberg). Welche Ansprechpartner für das jeweilige Bundesland zuständig sind, ist auf der NEA-Homepage zu finden (s. „Weitere Infos“).

Eine Nachbefragung unter den Fachteammitgliedern im Frühjahr 2013 wurde mit einer Rücklaufquote von 56 % gut angenommen. Zielsetzung der Befragung war eine Untersuchung der „Nachhaltigkeit“ der Fachteams, wobei die Häufigkeit von Klienten- und kollegialen Beratungen, das Profitieren von den Inhalten aus den Workshops sowie die Häufigkeit von Fachteamtreffen erhoben wurden.

Abbildung 2 zeigt, dass ein Großteil der Fachteammitglieder gelegentlich Klienten- sowie kollegiale Beratungen zu dem Thema Epilepsie und Arbeit durchführt. Der Transfer von den Inhalten der Workshops in die berufliche Praxis wird sogar von den meisten Befragten als häufig bezeichnet. Zu berücksichtigen bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist, dass manche Fachteammitglieder nicht nur Menschen mit Epilepsie beraten, sondern auch andere Patienten- oder Zielgruppen. So sind z. B. die Mitarbeiter von den Integrationsfachdiensten und den Integrationsämtern für alle Behinderungsarten zuständig.

Zu der Häufigkeit der Fachteamtreffen nach den Workshops (die abhängig ist von dem letzten Termin der Workshops) ist festzuhalten, dass fast 80 % der Befragten berichten, dass ein Treffen entweder schon stattgefunden hat oder geplant ist.

Auswertungen der Daten aus dem Netzwerk Epilepsie und Arbeit

Das NEA-Projekt ist in erster Linie ein Praxisprojekt; dennoch wurde die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung genutzt, da dies eine gute Gelegenheit zur bundesweiten Erhebung von Daten über berufliche Integrationsprozesse von epilepsiekranken Arbeitnehmern darstellt. Im ersten Schritt entwickelte das NEA-Projektteam eine Reihe von standardisierten Erhebungsbögen, die die Klientendaten vom Beginn der Begleitung bis zum Abschluss hin erfassen (mehr dazu in Eller 2012). Diese Bögen wurden sowohl von der Projektzentrale in München bei den Beratungen verwendet als auch (nach einer Schulungseinheit) von den einzelnen Fachteams. Die Datenerhebung erfolgte stets im Einverständnis mit den Klienten und unter Wahrung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen. Erhobene Variablen beziehen sich auf soziodemografische, krankheits- und berufsspezifische Merkmale, aber auch prozessrelevante wie die Zahl der Netzwerkpartner oder die Dauer der Begleitung. Insgesamt konnten 141 Klienten aufgenommen werden, deren soziodemografische Merkmale in  Tabelle 1 festgehalten sind.

Die am häufigsten genannte Anfallsart ist generalisiert tonisch-klonisch (85 %), die zweithäufigste ist komplex-fokal (32 %) ( Abb. 3). Nur 10 % der Befragten waren seit mindestens einem Jahr oder länger (mit oder ohne Medikation) anfallsfrei, 22 % berichten dagegen über einen oder mehr Anfälle pro Monat. Was die Selbst- oder Fremdgefährdungssituation am Arbeitsplatz angeht, berichten 78 % der Befragten über Risikotätigkeiten (wie z. B. Arbeiten mit heißen Flüssigkeiten oder Arbeiten auf Leitern).

Die Outcomes bei Abschluss der Beratung konnten noch bei 80 Klienten festgehalten werden ( Abb. 4). Dabei ist zu sehen, dass sich über zwei Drittel der Befragten – noch immer oder schon wieder – in einem Beschäftigungsverhältnis befinden. Am zweithäufigsten nehmen die Befragten an einer Qualifizierungs- oder Rehabilitationsmaßnahme teil. Nur 5 % sind arbeitslos (geworden), ein noch kleinerer Anteil der Klienten hat Rente beantragt oder schon erhalten.

Was bringt die Zukunft?

Vor dem Hintergrund, dass der Anteil erwerbstätiger Menschen mit Epilepsie im Vergleich zu 1995/96 angestiegen ist, könnte man der Zukunft hoffnungsfroh entgegenblicken (May u. Pfäfflin 2013). Allerdings ist es immer noch so, dass der Anteil von Erwerbstätigen bei Epilepsiebetroffenen deutlich niedriger ist als in der deutschen Gesamtbevölkerung (60,2 % vs. 76,1 %; ebenda). Hinzu kommt auch, dass die indirekten Kosten von Epilepsie die direkten um das Doppelte übersteigen (68,9 % vs. 31,1 %). Das heißt also, dass weder epilepsiebedingte Krankenhausaufenthalte noch antikonvulsive Medikamente den Großteil der Kosten ausmachen, sondern Frühberentungen, Arbeitslosigkeit und krankheitsbedingte Fehltage am Arbeitsplatz.

Die Ergebnisse des NEA-Projekts geben Hinweise darauf, dass diese letztgenannten Kostenfaktoren vermieden oder abgeschwächt werden können. Durch die in und mit den Fachteams gewonnene Beurteilungsroutine von konkreten Arbeitsplätzen, durch Einzelfallbeurteilungen vor Ort, durch qualifizierte kollegiale Beratungen mit Experten können Integrationsprozesse in den Arbeitsmarkt erfolgreich gestaltet werden. Viele dieser Aktivitäten wurden von den Experten selbstverständlich schon vor der Teilnahme an NEA verfolgt. Sie konnten jedoch durch das Projekt intensiviert und vertieft werden, was auch die positiven Evaluationsergebnisse der Fachteammitglieder zeigen. Im August 2013 geht das NEA-Projekt zu Ende und das Projektteam kann zu Recht behaupten, dass alle Projektziele erreicht werden konnten.

Kann denn das Netzwerk auch ohne bundesweit koordinierende Stelle aufrechterhalten werden? Diese Frage wird immer wieder von Fachteammitgliedern und Netzwerkpartnern gestellt. Auch in der Evaluation zeigte sich, dass 98,8 % der befragten Fachteammitglieder eine Geschäftsstelle befürworten. Aufgaben gäbe es genug, so sieht es auch ein Fachteammitglied in einer Notiz auf dem Evaluationsbogen: „Eine Weiterführung der NEA-Projektzentrale wäre sinnvoll, um die regionalen Fachteams zu supervidieren, zu unterstützen, ihnen aktuelle rechtliche Regelungen zu vermitteln, „komplizierte“ Fälle mit zu lösen, evtl. auch überregionale Netzwerktreffen zu organisieren sowie um dauerhaft Multiplikatoren zu informieren und fortzubilden“. 

Literatur

Brodisch P: Ein Grand-mal-Anfall im Unterricht. ASU Praxis 2012; 47: 19–21.

Eller M: Berufliche Integrationsprozesse wissenschaftlich begleiten und auswerten. ASU Praxis 2012; 47: 28–29.

Knieß T: Epilepsien sind häufig, ihre Ursachen vielfältig. ASU Praxis 2012; 47: 22–25.

Kreis G: Selbstgefährdungen minimieren, Rechtssicherheit herstellen. ASU Praxis 2012, 47: 26–27.

May TW, Pfäfflin M: Aspekte und Determinanten der Lebensqualität bei Menschen mit Epilepsie in ambulanter, neurologischer Behandlung. Erste Ergebnisse einer bundesweiten Follow-up-Befragung (EPIDEG-Studie II). In: Coban I, Lippold M, Thorbecke R (Hrsg): 12. Fachtagungsband Sozialarbeit bei Epilepsie. Bielefeld, Bethel Verlag, 2013 (in Druck).

Strzelczyk A et al.: Evaluation of health-care utilization among adult patient with epilepsy in Germany. Epilepsy & Behavior 2012; 23: 451–457.

    Info

    Die BGI 585 sind die Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie. Derzeit gültig ist (noch) die Version von 2007, zum Download unter http://publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/bgi585.pdf.

    Im Jahr 2013 soll eine aktualisierte Version veröffentlicht werden.

    Weitere Infos

    Für die Autoren

    Dr. rer. biol. hum. M. Eller

    Diplom-Soziologin

    Netzwerk Epilepsie und Arbeit

    Seidlstraße 4

    80335 München

    epilepsie-arbeit@im-muenchen.de

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