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Arbeitsmedizinische Konsequenzen des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms bei Erwachsenen und Heranwachsenden

Arbeitsmedizinische Konsequenzen des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms bei Erwachsenen und Heranwachsenden

Ziele: Es ist zu erwarten, dass das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) die Leistungsfähigkeit und Arbeitsgesundheit von jugendlichen oder heranwachsenden Arbeitnehmern negativ beeinflusst.

Methoden: Es wurde eine Literaturrecherche (MEDLINE) durchgeführt im Hinblick auf Publikationen, die sich mit direkten oder indirekten Effekten von ADHS auf die Arbeit, Arbeitssicherheit, Arbeitslosigkeit und Gesundheit im Allgemeinen befassen.

Ergebnisse: ADHS korreliert mit erhöhter Arbeitslosigkeit. Beschäftigte erwachsene ADHS-Patienten klagen vermehrt über arbeitsplatzbedingte Beeinträchtigungen, geminderte Produktivität und Leistungsfähigkeit, gesteigerte Verunsicherung und geringe Frustrationstoleranz. Auch findet sich bei ihnen ein erhöhtes Unfallrisiko, vermehrte Traumata und Verkehrsunfälle (Wegeunfälle). Die Erkrankung hat signifikante Folgen auf Gesundheit im Allgemeinen, führt zu minderem Ausbildungsstand sowie gesteigerter Häufigkeit von Drogenkonsum und Kriminalität. Durch die Fehlzeiten und die geminderte Produktivität hat die Erkrankung erhebliche wirtschaftliche Folgen. Psychologisches Training in Kombination mit stimulierender Medikation – wenn nötig – wird als Behandlung der Wahl empfohlen. Bei allerdings beschränkter Datenlage zeigt sich hier eine Verbesserung von Symptomen und Produktivität sowie ein vermindertes Unfallrisiko, allerdings sind weitere Studien nötig.

Schlussfolgerungen: ADHS beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit, die Arbeitseffektivität und erhöht das Unfallrisiko bei der Arbeit. Da es sich um eine behandelbare Diagnose handelt, sollten Patient, Arbeitgeber und Ärzte kooperieren, um die Situation sowohl für den Patienten selbst als auch für die Firma zu optimieren.

Schlüsselwörter: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom – Literaturrecherche – Leistungsfähigkeit – Arbeitseffektivität

Occupational medical consequences of attention-deficit hyperactivity disorder in adults and adolescents

Purpose: Attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) must be expected to cause negative effects on the performance of adolescent or adult workers and on occupational health.

Methods: A review of the MEDLINE database was performed for papers dealing with direct or indirect effects of ADHD on work, safety at work, employment and on occupational health.

Results: ADHD is correlated with higher unemployment. Employed adults with ADHD experience more workplace impairment, reduced productivity or performance, increased irritability and low frustration tolerance. They also show an increased risk of accidents, trauma and traffic accidents. Indirect effects of ADHD on occupational health is a reduced level of education, increased rate of drug abuse and criminality. The disease is of significant economic impact because of absenteeism and lost productivity. Psychoeducation in combination with stimulant medication – if necessary –, is recommended as first-line treatment. Limited data prove the amelioration of symptoms, improvement of work efficiency and reduced risk of accidents, but further studies are necessary.

Conclusions: ADHD affects performance, efficiency and risk at work. Since it is a treatable condition, patients, employers and physicians should cooperate to optimize the situation for the benefit of the employee as well as for the company.

Keywords: Attention-deficit/hyperactivity disorder – literature research – performance capability – work efficiency

T. Küpper 1,2

J. Haavik 3

H. Drexler 4

J.A. Ramos-Quiroga 5

D. Wermelskirchen 6

C. Prutz 7

B. Schäuble 6

(eingegangen am 07. 02. 2013, angenommen am 21. 05. 2013)

Lange Zeit wurde ADHS als ausschließliche Erkrankung des Kinder- und Jugendalters betrachtet (Goodman 2007). Inzwischen ist unumstritten, dass das Problem bei den meisten Patienten im Erwachsenenalter weiterhin persistiert (Kooij et al. 2010). Die Inzidenz wird bei Erwachsenen auf 3–5 % geschätzt (de Graaf et al. 2008; Fayyad et al. 2007; Kessler et al. 2005, 2009; Kooij et al. 2005). Allerdings ist die Diagnose von ADHS beim Erwachsenen nicht ganz leicht, weil die Symptome dieser Erkrankung mit denen anderer verbreiteter psychiatrischer Erkrankungen sowie mit Komorbiditäten von ADHS überlappen können (Searight et al. 2000). So finden sich bei 65–89 % erwachsener ADHS-Patienten eine oder mehrere weitere psychiatrische Diagnosen (Sobanski et al. 2007). Beispielsweise gibt es große Ähnlichkeiten zwischen bipolaren Störungen und ADHS. Daher sollten Patienten mit der jeweils einen Störung grundsätzlich auf das mögliche gleichzeitige Vorhandensein der anderen untersucht werden (Halmoy et al. 2010). Erschwerend kommt hinzu, dass die Symptome von ADHS sich auch erst im höheren Lebensalter ausbilden können.

Die Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität können sich im Lauf der Adoleszenz zurückbilden – was nicht zwingend zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit insgesamt führt – während ein Teil der Symptome beim Erwachsenen fortbestehen kann, die dann erhebliche Beeinträchtigungen im Sozialverhalten und im Erwerbsleben haben können. Das Problem der Unaufmerksamkeit persistiert oft beim Erwachsenen (Biederman et al. 2000; Kessler et al. 2010) und kann dann zu inadäquatem Risikoverhalten, einer Zunahme von Verkehrsunfällen (Barkley u. Cox 2007) und einem erhöhten Risiko der Arbeitslosigkeit führen (Gjervan et al. 2011). Erwachsene ADHS-Patienten berichten auch immer wieder über Schwierigkeiten bei alltäglichen Tätigkeiten, was zu entsprechenden Beeinträchtigungen führt (Barkley u. Fischer 2011; Barkley u. Murphy 2010). Zusammengefasst führen die Symptome, die beim Erwachsenen persistieren, zu einer geminderten Arbeitsproduktivität. Ein Screening von Erwachsenen kann dabei leicht durchgeführt werden (Self-Report, ärztlich abgefragte Skalen, beides ergänzt durch Informationen von Familie, Freunden, Klassenkameraden und Kollegen; Culpepper u. Mattingly 2008; Haavik et al. 2010).

Die vorliegende Übersichtsarbeit soll einen Überblick über den Einfluss auf ADHS auf die Gesundheit und Arbeit von Erwachsenen geben.

Methoden

Eine Literaturrecherche internationaler Datenbanken (z. B. Medline) wurde mit folgenden Stichworten durchgeführt: „attention deficit disorder with hyperactivity“, „adhd“ or „attention deficit“, in Kombination mit „work“, „employ*“, „unemployment“, „productivity“, „occupation“, „vocation“, „pension*“, „retire*“, „incapacity“ or „work*“. Die Recherche beschränkte sich auf Publikationen, die in Deutsch oder Englisch veröffentlicht wurden. Die gefundenen Abstracts wurden hinsichtlich ihrer Relevanz auf arbeitsmedizinische Fragen erwachsener ADHS-Patienten überprüft und im positiven Fall in die vorliegende Übersichtsarbeit eingeschlossen. Die Literaturangaben dieser Publikationen wurden zusätzlich auf relevante Arbeiten überprüft.

Es fanden sich zunächst insgesamt 51 Arbeiten, von denen 18 von besonderer arbeitsmedizinischer Bedeutung waren. Bei der Überprüfung der jeweiligen Literaturangaben fanden sich weitere 79 Arbeiten, die bei der Übersicht Berücksichtigung fanden.

Hohe Arbeitslosigkeit und schlechte Arbeitsbelastbarkeit

Gemäß der World Mental Health Survey Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in 10 Ländern ist ADHS eine relativ häufige Problematik bei Arbeitnehmern und ist mit erheblicher Arbeitsbeeinträchtigung belastet (de Graaf et al. 2008). So zeigten beispielsweise zwei norwegische Studien, dass signifikant weniger Erwachsene mit ADHS in einem regulären Beschäftigungsverhältnis waren als Erwachsene ohne ADHS (22–24 % vs. 72–79 %; Gjervan et al. 2011; Halmoy et al. 2009). Die Behandlung des ADHS in der Kindheit erwies sich als starker Prädiktor für das Beschäftigungsverhältnis als Erwachsener, und zwar völlig unabhängig von Komorbiditäten, Genussmittelmissbrauch oder aktueller Behandlung (Odds Ratio 3,2, p = 0,014; Halmoy et al. 2009). Bei Arbeitssimulationsstudien fanden sich bei ADHS-Patienten signifikante Leistungsdefizite (Biederman et al. 2005; Delisle u. Braun 2011). Vergleichende Studien an Patienten, die mit und ohne ADHS in der gleichen Klinik behandelt wurden, zeigten die ADHS-Patienten mit einer auffälligen Häufung von Verhaltensauffälligkeiten, Problemen am Arbeitsplatz und inadäquatem Risikoverhalten (Murphy u. Barkley 1996). Ähnliches zeigte sich bei Heranwachsenden: College-Studenten zeigten häufiger Schwierigkeiten als ihre Komilitonen (Shifrin et al. 2010). Insgesamt werden ADHS-Patienten als wenig verlässliche Arbeitskräfte taxiert und die Erkrankung ist signifikant mit Unterbeschäftigung assoziiert (Biederman et al. 2008).

Verhalten am Arbeitsplatz

Zu den Symptomen der Unaufmerksamkeit, der Hyperaktivität und Impulsivität zeigen Erwachsene mit ADHS oft zusätzlich Stimmungsschwankungen, Irritabilität, aufbrausendes Verhalten und geringe Frustrationstoleranz (Skirrow et al. 2009; Surman et al. 2011). Das gemeinsame Auftreten dieser Symptome suggeriert einen Zusammenhang und man könnte sie auch als Teil des ADHS-Syndroms auffassen.

Unangemessene Frustrationstoleranz, aufbrausendes Verhalten und Irritabilität werden in der modernen Arbeitswelt oft sehr schlecht toleriert. Im Rahmen strikter „political correctness“ verfolgen Arbeitgeber zunehmend eine Null-Toleranz gegen aggressive Verhaltensmuster. Offensichtlich verursachen diese Verhaltensmuster in der Arbeitsrealität für die Betroffenen größere Schwierigkeiten als die „klassischen“ Symptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität (J. Haavik, persönl. Mitteilung). Allerdings ist die Datenlage zu dieser Thematik noch lückenhaft und es sind weitere Untersuchungen notwendig, um diese Faktoren in ihrer Relevanz näher zu klassifizieren und ggf. durch spezifische therapeutische Angebote angehen zu können. Zusätzlich müssen Faktoren wie Diskriminierung und Vorverurteilung von Personen mit ADHS am Arbeitsplatz noch näher untersucht werden.

In einigen Studien wurde die soziale Situation von ADHS-Patienten am Arbeitsplatz untersucht (allerdings liegen die meisten Daten aus Schulen vor). Es fanden sich signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalttätigkeit, Schikanierungen und Hyperaktivität und die Opfer von Schikanen zeigten regelmäßig emotionale und interpersonelle Probleme in der Schule (Reiter u. Lapidot-Lefler 2007). Zwischen aktivem Schikanieren und schikaniert werden besteht ein Geschlechtsunterschied: Im Alter bis 18 Jahre sind Mädchen häufiger die Opfer und Jungen oder junge Männer häufiger die Täter (Kumpulainen 2008; Novik et al. 2006). Im Vergleich zu einer Matched-control-Gruppe zeigten Heranwachsende mit ADHS signifikant erhöhte Werte auf der Bully Victimization Scale und litten viel häufiger unter Schikanen ihrer Mitschüler (Twyman et al. 2010). Dies ist von besonderer Bedeutung, weil ein Zusammenhang zwischen den Erfahrungen im letzten Schuljahr und der späteren Entwicklung psychopathologischer Verhaltensmuster nachgewiesen wurde (Gunther et al. 2007). Zahlreiche weitere Studien untersuchen den Zusammenhang zwischen Heranwachsenden mit ADHS und Schikanierungen im Zeitraum des letzten Schuljahrs oder der ersten Berufsjahre. Zusammengefasst kann angenommen werden, dass das Problem am Arbeitsplatz weiterhin besteht und dass es die Leistungsfähigkeit des Betroffenen massiv einschränken kann. Allerdings fehlen konkrete Daten, die dies bzw. den Zusammenhang mit anderen Verhaltensmustern am Arbeitsplatz wie Mobbing belegen.

Geringe Produktivität und Fehlzeiten

Aus ökonomischer Sicht betrachtet haben Daten einer US-amerikanischen Datenbank ergeben, dass ADHS-Patienten eine deutlich höhere Rate an Komorbiditäten aufweisen, ebenso höhere medizinische Kosten verursachen und häufiger am Arbeitsplatz fehlen als Personen ohne ADHS (Secnik et al. 2005). Bedeutsam ist für die Betroffenen, dass das häufige Fehlen ein relevantes Risiko darstellt, den Arbeitsplatz zu verlieren (Koopmans et al. 2008). Jüngere Daten – ebenfalls aus den USA – zeigten die dargestellten Unterschiede noch detaillierter: Gesundheitskosten 6885 vs. 4242 US$, Fehltage 8,86 vs. 7,16 und Stellenwechsel 8,99 vs. 5,26 % (Kleinman et al. 2009). Die Produktionseinbuße, die durch ADHS verursacht wird, wurde mit jährlich 4336 US$ pro ADHS-Mitarbeiter beziffert (Kessler et al. 2009). Ursächlich waren Fehltage, reduzierte Produktivität und Unfälle. Größere amerikanische Untersuchungen bezifferten den jährlichen Verlust an effektiver Arbeitsleistung pro Patient und Jahr auf insgesamt 35 Fehltage, was sich auf eine Gesamtsumme von 19,5 Milliarden US$ für die amerikanische Wirtschaft aufsummieren würde (Kessler et al. 2005). Eine WHO-Studie in 10 Ländern kam zu vergleichbaren Ergebnissen. Hier fanden sich 22,1 zusätzliche Fehltage pro Jahr (de Graaf et al. 2008). Für die Betroffenen selbst in den USA wurde errechnet, dass sich der Gesamtschaden auf 67–116 Milliarden US$ Einkommensverlust addiert (Biederman u. Faraone 2006).

Erhöhtes Unfall- und Verletzungsrisiko

Zahlreiche Studien zeigen, dass heranwachsende und junge Erwachsene mit ADHS ein signifikant erhöhtes Unfall- und Verletzungsrisiko aufweisen (Breslin u. Pole 2009; Hodgkins et al. 2011; Kaya et al. 2008; Swensen et al. 2004). Hodgkins et al. (2011) konnten an einem sehr großen Kollektiv zeigen, dass ADHS-Patienten signifikant häufiger wegen Verletzungen behandelt werden mussten als die Kontrollgruppe und signifikant höhere Gesundheitskosten verursachten. Ähnliches fand eine kanadische Analyse, in der ADHS-Patienten eine doppelt so hohe Verletzungswahrscheinlichkeit aufwiesen als Personen ohne ADHS (Breslin u. Pole 2009). Einschränkend muss dazu allerdings festgestellt werden, dass die Unterschiede nach Adjustierung auf demografische und arbeitsbedingte Faktoren nicht mehr signifikant waren.

Auffälligkeiten im Fahrverhalten und Straßenverkehr

Unzweifelhaft weisen Heranwachsende und Erwachsene mit ADHS ein höheres Unfallrisiko im Straßenverkehr auf (Barkley et al. 1993; Fried et al. 2006; Reimer et al. 2005, 2007, 2010; Richards et al. 2002, 2006). Auch findet sich bei ihnen häufiger riskantes Fahrverhalten wie Geschwindigkeitsübertretungen. Das Gesamtrisiko kann durch Komorbiditäten wie Genussmittelmissbrauch oder Drogenkonsum natürlich weiter erhöht werden (Barkley et al. 1993). Das betrifft zwar grundsätzlich jeden Arbeitnehmer mit ADHS, der zur oder von der Arbeit heim fährt (Wegeunfälle), wesentlich mehr sind jedoch solche Arbeitnehmer betroffen, zu deren Arbeitsaufgaben eine mehr oder weniger regelmäßige Fahrtätigkeit gehört, insbesondere wenn es sich um Langstreckenfahrten, um Gefahrguttransporte, um Busfahrer oder LKW-Fahrer handelt. Reimer et al. (2007) konnten zeigen, dass ADHS-Fahrer deutlich schneller ermüden als Personen ohne ADHS. Noch viel stärker als bei anderen Personen haben ablenkende Einflüsse im Fahrzeug, z. B. Musik, einen negativen Einfluss auf das Fahrverhalten und die Aufmerksamkeit des ADHS-Fahrers. Dabei sind für ADHS-Patienten ganz offensichtlich „langweilige“ eintönige Fahrten eine ganz besondere Gefahr, an Fahraufmerksamkeit einzubüßen (und sich mit etwas anderem zu beschäftigen; Reimer et al. 2007). Sie sind entsprechend häufiger in schwere Unfälle auf geraden Autobahnen und einsamen, geraden Landstraßen verwickelt.

Ob stimulierende Substanzen das Verkehrsrisiko von ADHS-Patienten reduzieren können, ist Gegenstand zahlreicher Studien (Barkley et al. 2005; Cox et al. 2004, 2006, 2008a,b; Kay et al. 2009; Sobanski et al. 2008; Verster et al. 2008). Alle Studien konnten zwar eine Verbesserung der Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeit ebenso zeigen wie eine Verbesserung der Geschwindigkeitskontrolle und Fahrsicherheit, jedoch waren immer nur wenige Probanden eingeschlossen und manchmal wurde eine mehr oder weniger artifizielle Fahrsimulation anstatt von realem Straßenverkehr zur Untersuchung benutzt. Daher sind zum besseren Verständnis der Zusammenhänge und ggf. auch zur Therapieoptimierung weitere Studien erforderlich. Es gilt hier, die Erhöhung der Fahrsicherheit bzw. das mindere Unfallrisiko gegen die unerwünschten Wirkungen der Medikation abzuwägen. Dabei gilt Methylphenidat (MPH) generell als Mittel erster Wahl (z. B. Kooij et al. 2010) und alle vorliegenden Studien weisen darauf hin, dass die positiven Effekte einer MPH-Therapie auf das Fahrverhalten die negativen weit überwiegen. Daraus wird allgemein eine bestehende Therapieindikation abgeleitet.

Dessen ungeachtet wurden einige nichtpharmakologische Therapieansätze zur Verbesserung des Fahrverhaltens von ADHS-Patienten untersucht. So konnte eine Pilotstudie zeigen, dass ein Training zur Steigerung des Gefahrenbewusstseins eine deutliche Verbesserung der Reaktionszeiten auf Gefahrenmomente erzeugte (Poulsen et al. 2010). Aber wiederum muss auf die geringe Kollektivgröße aufmerksam gemacht werden, die eine Verallgemeinerung der Ergebnisse noch nicht zulässt.

Einfluss von ADHS auf die Ausbildung

Es ist gut belegt, dass ADHS die Schulbildung von Kindern massiv beeinträchtigt. So gehen Jungen mit ADHS in den USA im Mittel 2,5 Jahre weniger zur Schule als ihre Altersgenossen ohne ADHS (p = 0,001; Payne et al. 2011). Unter denjenigen, die eine höhere Schulbildung anstreben, zeigen 2–8 % klinisch relevante Ausprägungsgrade von ADHS und bei mindestens 25 % der amerikanischen Studenten, die Hilfe wegen Verhaltensauffälligkeiten in Anspruch nehmen, wurde ADHS diagnostiziert (DuPaul et al. 2009). Dies hat signifikanten Einfluss auf den Studienerfolg (Norwalk et al. 2009), steht aber auch mit anderen Problemen in Verbindung, die den Studienerfolg negativ beeinträchtigen können. So waren die ADHS-Patienten unter 2793 taiwanesischen Studenten überproportional internetabhängig (Yen et al. 2009). Dabei zeigte die Aufmerksamkeitsstörung die höchste Korrelation zur Internetabhängigkeit, während dieser Zusammenhang bei der Impulsivität geringer war. Frauen zeigten stärkere Korrelationen als Männer. Generell zeigt die Literatur, dass Studenten mit ADHS ein höheres Risiko aufweisen, in ihrer akademischen Laufbahn in Schwierigkeiten zu kommen als Studenten ohne ADHS (Weygandt u. DuPaul 2008). Dies kann dazu führen, dass in Relation zum intellektuellen Potential ein relativ schlechtes Studienergebnis und spätere Unterbeschäftigung erreicht wird (Biederman et al. 2008).

Genuss- und Suchtmittelmissbrauch

Der negative Zusammenhang zwischen Genuss- bzw. Suchtmittelmissbrauch und Arbeitsleistung ist aus zahlreichen Studien zu Alkohol, Opioiden, Cannabis und anderen Stoffen hinlänglich bekannt (z. B. Thavorncharoensap et al. 2009; Gilson u. Kreis 2009; Macdonald et al. 2010)). ADHS stellt schon allein ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch dar, das sich bei Vorhandensein psychiatrischer Komorbiditäten weiter erhöht (Biederman et al. 1995). Bei College-Studenten fand sich ein direkter Zusammenhang zwischen Ausprägungsgrad der ADHS-Symptome und dem Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis (Upadhyaya u. Carpenter 2008). Darüber hinaus prädisponierte das alleinige Vorhandensein von ADHS zwar nicht zum Opioidmissbrauch, jedoch war die Häufigkeit von drogeninduzierten Komplikationen bei ADHS-Patienten deutlich erhöht (Davids et al. 2005). Der ursächliche Zusammenhang ist nicht ganz klar und kann durchaus auf „Selbstmedikation“ der ADHS-Symptome mit Alkohol oder Cannabis beruhen (Ohlmeier et al. 2007; Wilens et al. 2007). Ob eine adäquate Therapie von ADHS mittels stimulierender Medikation derartige Komorbiditäten zu bessern vermag, ist in Anbetracht einer widersprüchlichen Datenlage derzeit unklar (Gehricke et al. 2011; Vansickel et al. 2011; Winhusen et al. 2011; Covey et al. 2011).

Zweifellos können die genannten Mittel zur „Selbsttherapie“ jedoch die Symptome von ADHS überdecken und somit die Diagnose sowohl des Missbrauchs als auch von ADHS erheblich erschweren. Dies ist in Anbetracht dessen, dass etwa 50 % erwachsener ADHS-Patienten einen Substanzmissbrauch zeigen, von nicht unerheblicher klinischer Bedeutung (Fuemmeler et al. 2007; Wilens et al. 2008). Sowohl für die Alkoholabhängigkeit als auch für ADHS wurde eine genetische Prädisposition gefunden, die sich möglicherweise hinsichtlich beider Diagnosen überlappt (Johann et al. 2003).

Anfälligkeit gegenüber Stimmungsschwankungen und Angststörungen

Zahlreiche psychische Störungen wie Depression, bipolare Störungen und Angststörungen können die Arbeitsfähigkeit massiv beeinträchtigen und sowohl für wiederholte Kurzzeitausfälle wie auch zu Langzeiterkrankungen führen (Edward u. Munro 2008; Lauber u. Bowen; Laxman et al. 2008). ADHS-Patienten weisen nun ihrerseits eine hohe Korrelation zu psychiatrischen Komorbiditäten auf, die sie psychosozial und im Arbeitsleben erheblich beeinträchtigen (Halmoy et al. 2009, 2010; Sobanski et al. 2007). In einem Schwerpunktkrankenhaus in Europa zeigte sich für als auffällig empfundene Stimmungsschwankungen eine Lifetime-Inzidenz von 57 % und für Angststörungen eine on 27 % (Jacob et al. 2007). Während psychiatrische und kognitive Beeinträchtigungen bei Frauen und Männern eine gleiche Häufigkeit zeigen (Biederman 2004), tendieren Männer eher zu unsozialen Verhaltensmustern und einer höheren Rate an Drogenmissbrauch, während Frauen häufiger an Panikattacken, Anorexie, Bulimie und Borderline-Syndrom litten (Cumyn et al. 2009). Die Komorbidität von ADHS mit Angststörungen scheint bei ADHS-Patienten mit Genussmittel- oder Drogenmissbrauch überproportional häufig (Halmoy et al. 2010; Wilens et al. 2005).

Erhöhte Kriminalitätsrate

Immer wieder wurde über die erhöhte Häufigkeit von unsozialem Verhalten wie Diebstahl, Körperverletzung, Vandalismus, das Mitführen einer Waffe oder illegaler Drogen bei ADHS-Patienten berichtet (Barkley et al. 2004; Biederman 2004; Biederman u. Faraone 2006; Mannuzza et al. 2008). Es liegt nahe, dass diese Konstellation zu einer höheren Rate an Festnahmen, Bestrafungen und Gefängnisaufenthalten ebenso führt (Babinski et al. 1999; Barkley et al. 2004; Biederman u. Faraone 2006; Mannuzza et al. 2008; Sourander et al. 2006) wie zu einer erhöhten kriminellen Rückfallrate (Blocher et al. 2001; Mannuzza et al. 2008; Young et al. 2011). Neben bereits erwähnten Faktoren wie Komorbiditäten und geringerem Gesundheitszustand war die Suizidrate bei ADHS-Patienten unter den Gefängnisinsassen der USA höher als in der Vergleichsgruppe (Westmoreland et al. 2010). Das Vorhandensein einer psychiatrischen Diagnose sollte in den entsprechenden Einrichtungen also die Konsequenz haben, die Gefangenen angemessen zu betreuen. Lindblad und Lainpelto weisen darauf hin, dass neben der „direkten“ Kriminalität auch die „indirekte“ zu beachten ist, wenn beispielsweise eine Person von einem ADHS-Patienten als Zeugen fälschlicherweise einer Straftat bezichtigt wird (Lindblad u. Lainpelto 2011).

Derzeit bestehende Therapiestrategien

In zahlreichen Ländern haben die zuständigen Fachgesellschaften Richtlinien zur Behandlung von ADHD publiziert (z. B. (Gibbins u. Weiss 2007)), wobei die Unterschiede im Detail liegen. Grundsätzlich besteht die Strategie aus Psychoedukation (ggf. in Kombination mit einer Medikation in individuell idealer Dosierung), der Beobachtung von Restsymptomen und einer Langzeitbetreuung (Gibbins u. Weiss 2007). Die pharmakologische Therapie erwachsener ADHS-Patienten wurde in jüngerer Vergangenheit in Richtlinien konkretisiert (z. B. Benkert et al. 2010). Dabei steht stimulierende Medikation, insbesondere mittels MPH, im Fokus (z. B. Benkert et al. 2010; Hosenbocus u. Chahal 2009; Nutt et al. 2007; Rostain 2008)). Mit seiner Wirkung über adrenerge und dopaminerge Neurone zeigt die Substanz eine Response-Rate von mehr als 75 % (Nair u. Moss 2009). Immer wieder werden Bedenken dagegen geäußert, Substanzen wie MPH an Patienten zu verschreiben, die erwiesenermaßen ein erhöhtes Risiko zum Substanzmissbrauch haben. Jedoch zeigten Studien, dass Kinder mit ADHS und MPH-Behandlung später als Jugendliche weniger als eine halb so große Häufigkeit des Substanzmisbrauchs zeigten als unbehandelte Kinder (Wilens 2003; Faraone u. Wilens 2003) und dass kein Zusammenhang mit erhöhtem Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum besteht (Biederman et al. 2008).

Die Effektivität einer MPH-Medikation hinsichtlich der Symptome von ADHS ist gut belegt, jedoch fehlen Daten hinsichtlich arbeitsbezogener Aspekte (Castells et al. 2011; Faraone et al. 2004; Faraone u. Glatt 2010). Schäuble zeigte in einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie, dass sich das subjektive Befinden am Arbeitsplatz wie auch die Produktivität und Arbeitseffektivität unter MPH-Therapie bessern (Schäuble et al. 2011). Eine Studie mit Lisdexamphetamin kam zu ähnlichen Ergebnissen (Wigal et al. 2010). Erwähnt wurde bereits die verbesserte Fahrfähigkeit unter entsprechender Medikation.

Diskussion und Schlussfolgerungen

„Harte“ Daten zu ADHS-Patienten in der Arbeitswelt existieren kaum und wenn, dann basieren sie auf kleinen oder hoch selektierten Kollektiven. Beides wird aber der hohen Dynamik, der das Arbeitsleben speziell eines ADHS-Patienten mit erhöhter Rate an Arbeitsplatzwechseln unterliegt, nicht gerecht. Unstrittig ist jedoch, dass ADHS erheblichen – negativen – Einfluss auf das Erwerbsleben mit der Konsequenz geringerer Leistungsfähigkeit und Arbeitseffektivität, hohen Fehlzeiten, Frustration, Ärger im Kollegenkreis und einem erhöhten Unfallrisiko hat. In vielen Fällen wird das intellektuelle Potenzial nicht ausgeschöpft, was wiederum zu erhöhter Frustration führt. Hinzu kommen indirekt das Arbeitsleben beeinflussende Faktoren wie Drogenkonsum und Kriminalität.

Auf der anderen Seite gibt es ADHS-Patienten – meist Selbstständige oder Unternehmer – die fest der Überzeugung sind, dass sie ohne ihre „Ruhelosigkeit“ nicht in der Lage wären, ihre umfangreiche Tätigkeit auszuführen und dass ihre Multitaskingfähigkeit eine willkommene (!) Folge ihrer „Erkrankung“ (ADHS wird von diesen Personen subjektiv nicht als Erkrankung empfunden!) sei. Inwieweit derartige Aussagen zu verallgemeinern sind, lässt sich auf dem derzeitigen Stand des Wissens keinesfalls sagen, auch nicht, wie die Arbeitsqualität und Fehlerrate dieser Personen ist. Unabhängig davon umfasst eine fachgerechte Betreuung die Themen konsequente Therapie, angemessenes Fahrverhalten, vorsichtiger Umgang mit Alkohol und Tabak sowie Vermeidung von Drogen, strategische Karriereplanung und Vertraulichkeit von Details am Arbeitsplatz, um Mobbing zu vermeiden.

Eine Schlüsselfunktion in der Unterstützung von erwachsenen ADHS-Patienten kommt den Allgemeinmedizinern, Hausärzten, aber auch den Betriebsärzten zu. Dies führt auch dazu, Betroffene im Arbeitsleben zu halten (Mao et al. 2011). Beruflich sollten ADHS-Patienten nach Möglichkeit flexible, dynamische oder kreative Aufgaben übernehmen, während monotone Tätigkeiten wie beispielsweise Fließbandproduktion höchst ungeeignet erscheinen (Delisle u. Braun 2011). Seitens Vorgesetzter und Arbeitgeber sollte realisiert werden, dass die Patienten Schwierigkeiten haben können, in einer kooperativen Arbeitsumgebung („Teamwork“) zurecht zu kommen (Perrin et al. 2005). Auf der anderen Seite gibt es einzelne Tätigkeiten, bei denen man aus arbeitsmedizinischer Sicht Bedenken aussprechen muss, sollte ein ADHS-Patient dort eingesetzt werden. Dies könnten einige Tätigkeiten mit erhöhter Gefährdung an schnell drehenden Maschinen oder Aufsichtstätigkeiten mit hoher Konzentrationsleistung über längere Zeit (z. B. Prozess- oder Kraftwerkssteuerung) betreffen. Als Verkehrspiloten sind symptomatische ADHS-Patienten ungeeignet.

Die ökonomischen Konsequenzen der Erkrankung, speziell in Verbindung mit der niedrigen Therapierate bei Erwachsenen, legt eigentlich das Screening beispielsweise im Rahmen fälliger arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen nahe. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass es sich bei ADHS-Patienten um eine außerordentlich heterogene Personengruppe handelt, von denen ein nicht unerheblicher Anteil am Arbeitsplatz hervorragend „funktioniert“ – insbesondere, wenn sie in einer Arbeitsumgebung aktiv sein können, die ihrem Naturell und ihren Coping-Strategien entspricht.

Interessenkonflikt: J. Haavik war in den letzten drei Jahren Referent für Janssen-Cilag und Novartis. Er hat nie Forschungsunterstützung oder sonstige Zuwendungen von den genannten Firmen erhalten und erklärt daher, frei von Interessenskonflikten zu sein. J.A. Ramos-Quiroga war in den letzten drei Jahren Referent für Janssen-Cilag, Eli Lilly, Shire and Rubio. Er hat keinerlei Unterstützung von Janssen-Cilag, Rubio, Eli Lilly und der Alicia Koplowitz Foundation erhalten. D. Wermelskirchen ist Mitarbeiter von Janssen-Cilag Deutschland. C. Prutz ist Mitarbeiter von Janssen-Cilag, Schweden. B. Schäuble ist Mitarbeiterin von Janssen-Cilag EMEA. Die übrigen Autoren haben keinerlei Interessenkonflikt zu erklären.

Literatur

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Für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Thomas Küpper

Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der RWTH Aachen

Pauwelsstr. 30

52074 Aachen

tkuepper@ukaachen.de

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2013; 48: 528–535

Fußnoten

1 Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der RWTH Aachen (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Kraus)

2 Medizinische Kommission der Union Internationale des Associations d’Alpinisme (UIAA MedCom)

3 Department of Biomedicine (Direktor: Rolf K. Reed), University of Bergen, Norwegen

4 Institut und Poliklinik für Arbeits, Sozial- und Umweltmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Hans Drexler), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

5 Department of Psychiatry, Hospital Universiutari Vall d’Hebron, Barcelona, Spanien

6 Janssen Cilag GmbH, Neuss

7 Janssen Cilag GmbH, Solletuna, Schweden

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