Einleitung
„Systeme der künstlichen Intelligenz (KI) sind vom Menschen entwickelte Softwaresysteme (und gegebenenfalls auch Hardwaresysteme), die in Bezug auf ein komplexes Ziel auf physischer oder digitaler Ebene handeln, indem sie ihre Umgebung durch Datenerfassung wahrnehmen, die gesammelten strukturierten oder unstrukturierten Daten interpretieren, Schlussfolgerungen daraus ziehen oder die aus diesen Daten abgeleiteten Informationen verarbeiten, und über das bestmögliche Handeln zur Erreichung des vorgegebenen Ziels entscheiden. KI-Systeme (...) sind auch in der Lage, die Auswirkungen ihrer früheren Handlungen auf die Umgebung zu analysieren und ihr Verhalten entsprechend anzupassen“ (Hochrangige Expertengruppe für Künstliche Intelligenz der EU-Kommission: Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, EU-Kommission, Brüssel, April 2019, S. 6).
Die ASU-Serie beleuchtet in loser Folge verschiedene Forschungsprojekte und -initiativen, wo KI am Arbeitsplatz heute erprobt wird oder schon zum Einsatz kommt.
Folge 6 stellt die „Exo-Matrix“ vor, die vor allem mittelständischen Handwerksbetrieben Hilfestellung bei der richtigen Auswahl geeigneter Exoskelette bietet.
Einleitung
Handwerksbetrieben, die in der Sanitär-Heizung-Klima-Branche (SHK) tätig sind, kommt eine Schlüsselrolle in der Bewältigung der einerseits notwendigen Transformation des Energiesystems in Deutschland und der Welt sowie der andererseits altersgerechten Gestaltung von Installationen aufgrund des demografischen Wandels zu. Einer optimalen Einsatzbereitschaft des SHK-Handwerks stehen aber auch Herausforderungen gegenüber. Das Branchenbild des SHK-Handwerks vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) von 2021 listet hier die Arbeitsverdichtung, den Fachkräftemangel und den damit einhergehenden demografischen Wandel als zentrale Aspekte auf, mit denen sich das SHK-Handwerk auseinandersetzen muss (Hauke u. Neitzner 2021). Gleichzeitig sind SHK-Beschäftigte hohen physiologischen Beanspruchungen ausgesetzt, die das Berufsbild bei vielen Berufseinsteigenden unattraktiv erscheinen lassen.
Wie in vielen anderen Bereichen manueller Arbeit auch, wird der Einsatz von Exoskeletten im SHK-Handwerk in Erwägung gezogen, um die körperlichen Beanspruchungen für die bestehenden Beschäftigten zu reduzieren und damit das Berufsfeld auch für Berufseinsteigende wieder attraktiver zu gestalten.
Exoskelette im Handwerk
Exoskelette für den Arbeitseinsatz sind entgegen der weit verbreiteten Einschätzung keine Apparaturen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten. Sie dienen als Hilfsmittel zur Ergonomieverbesserung vor allem an den Arbeitsplätzen, an denen andere Maßnahmen der Arbeitsplatzergonomie nach dem TOP-Prinzip1 nicht möglich sind, wie dies beispielsweise im SHK-Handwerk der Fall ist. Exoskelette sollen weniger die Kraft oder die muskuläre Ausdauer von Beschäftigten erhöhen, sondern die individuelle Beanspruchung, die sich aus den zu bewältigenden Belastungen (z. B. Arbeitsmittel und Werkzeuge) ergeben, verringern. Sie sind am Körper getragene beziehungsweise anziehbare mechanische Stützstrukturen, die körperlich anstrengende Tätigkeiten durch eine gezielte Unterstützung erleichtern sollen. Sie sind dabei so an den Körper gekoppelt, dass ihre Unterstützungsleistung direkt im Bewegungsablauf auf den Körper wirkt. Je nach Gestaltung können sie im Kontext der Arbeit zum Beispiel Bewegungen erleichtern, verstärken oder stabilisieren (Weidner u. Karafillidis 2018).
Die für die Arbeit notwendige Muskelkraft wird um das Maß der Unterstützungsleistung des Exoskeletts verringert oder Körperregionen bei statischen Haltearbeiten stabilisiert. Über diesen Weg können die körperlichen Beanspruchungen im Arbeitsverlauf reduziert werden. Hiermit ist dann auch mittel- und langfristig die Hoffnung verbunden, das Risiko für die Entwicklung von muskuloskelettalen Erkrankungen (MSE) aufgrund von arbeitsinduzierten Überlastungsphänomen maßgeblich zu senken (Kim et al. 2019).
Heutige Exoskelette unterstützen in der Regel eine spezifische Körperregion. Bis auf wenige Ausnahmen konzentrieren sich die marktverfügbaren Exoskelette auf eine Unterstützung der Nacken-Schulter-Region oder auf den unteren Rücken. Unklar ist trotzdem vielen Entscheidenden im Handwerk, welche Art von Exoskelett sich für ihre Beschäftigten eignen könnte. Der Großteil der SHK-Betriebe sind kleine und mittelständische Unternehmen (Statistisches Bundesamt 2020). Die Bewertung dessen, was Beschäftigte ergonomisch entlastet, muss zumeist von fachfremden Personen ohne arbeitswissenschaftliche oder ergonomische Expertise entschieden werden. Diese Entscheidung fällt bezogen auf den Einsatz von Exoskeletten im Handwerk noch schwerer, da viele der bestehenden Modelle eher mit einem Fokus auf den Industriesektor und weniger auf das Handwerk entwickelt wurden. Informationen zum Einsatz im Handwerk sind daher auch nur von wenigen Herstellern direkt zu erhalten.
Vor diesem Hintergrund verfolgte das Projekt Handwerksgeselle 4.0 (HWG 4.0), das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert wurde, das Ziel, die Gebrauchstauglichkeit und das Einsatzspektrum von marktverfügbaren Exoskeletten für das SHK-Handwerk zu testen. Hierzu wurden in Zusammenarbeit mit dem Zentralverband Sanitär-Heizung-Klima (ZVSHK) und weiteren Partnerbetrieben durch die exoIQ GmbH eine Vielzahl von passiven Exoskeletten (s. Infokasten) zur Rücken- und Schulterunterstützung unterschiedlichster Hersteller sowohl unter Laborbedingungen als auch im Feldeinsatz mit Handwerkern getestet (➥ Tabelle 1). Ausgeschlossen wurden Exoskelette, die sich noch im experimentellen Status befanden oder deren Anschaffungskosten sich außerhalb des finanziellen Spielraums der meisten SHK-Betriebe bewegten. Die im Projekt genutzten Exoskelette lagen dementsprechend bei einem Anschaffungspreis zwischen wenigen hundert Euro bis ca. 5000,– Euro zum Zeitpunkt der Beschaffung. Die Anzahl der verwendeten Exoskelette wurde nicht zuletzt durch das Projektbudget beschränkt, weshalb kein Anspruch auf vollständige Repräsentation des Exoskelett-Markts erhoben wird.
EXO-Matrix
Im Fokus der Analyse standen Arbeitsphasen aus der Badsanierung. In Anlehnung an Gefährdungsbeurteilungsverfahren wie die Leitmerkmalmethode oder Ovako Working posture Assessment System (OWAS) konnten aus den Badsanierungsphasen vier ergonomisch kritische Körperpositionen oder Zwangshaltungen abgleitet werden, die gehäuft auftraten und für deren Entlastung Exoskelette angeboten werden:
In der Badsanierung geht mit den gelisteten Körperpositionen jeweils eine Tätigkeit des Schiebens/Ziehens, des Hebens/Tragens oder eine vergleichsweise statische Montagetätigkeit einher. Jede dieser Kombinationen aus Körperposition und Tätigkeit birgt ihr eigenes ergonomisches Gefährdungspotenzial für die Schulter- oder Rückenregion, die auf Basis eines verständlichen Ampelsystems „grün“ (geringe Gefährdung), „gelb“ (mittlere Gefährdung), „rot“ (starke Gefährdung), visualisiert wurde. Zu beachten ist, dass es sich bei dieser Klassifizierung um eine generalisierte Ableitung aus den Ergebnissen des HWG 4.0 Projekts handelt. Im Einzelfall kann eine Gefährdungsbeurteilung bei einer anderen Tätigkeit bei gleichartiger Kombination aus Zwangshaltung und Tätigkeitsbereich, in Abhängigkeit der verwendeten Arbeitsmaterialien und verwendeten Werkzeugen, zu anderen Bewertungen kommen.
Für die Endanwender aus dem SHK-Bereich ist die farbliche Codierung jedoch eine gute Indikation, wo sich besondere Gefährdungen für die Beschäftigten ergeben könnten. Für die einzelnen Gefährdungsbereiche wurde dann aus den Feld- und Praxistests mit unterschiedlichsten Exoskeletten abgeleitet, welcher der beiden großen Teilbereiche sich für den jeweiligen Kontext eignet.
Das Ergebnis dieser kategorialen Einteilung ist die Exo-Matrix (➥ Abb. 1).
Sie ist ein Werkzeug, mit dem SHK-Betriebe die belastenden Arbeitsvorgänge ihrer Beschäftigten leicht identifizieren können. Gleichzeitig liefert sie die Kategorie an Exoskeletten, die in genau diesen Arbeitsvorgängen für eine ergonomische Verbesserung sorgen kann. Damit soll den Nutzenden eine Orientierung auf dem Markt an Exoskeletten erleichtert werden. Die hier vorgestellte Kategorisierung von Exoskeletten zu den Arbeitsprozessen grenzt den Kreis geeigneter Exoskelette für die Betriebe deutlich ein. Die Entwicklungen von Exoskeletten gestaltet sich derzeit hochdynamisch. Neue Systeme könnten die hier vorgenommene kategoriale Einteilung in Systeme zur Schulter- und Rückenunterstützung weiter aufbrechen, was eine Aktualisierung der Exo-Matrix bedingen würde. Explizit wurden keine Nutzungszeiträume für die Nutzung von Exoskeletten vorgegeben oder definiert. Die physiologischen Belastungen denen sich Beschäftigte ausgesetzt sehen, sind aufgrund der Vielfältigkeit der Tätigkeitsprofile im SHK-Handwerk in Verbindung mit den individuellen Ressourcen schwer bestimmbar. Aus den Nutzertests heraus hat sich aber als wesentliche Anforderung an die Systeme ergeben, dass diese über längere Zeiträume komfortabel zu tragen sein müssen und auch nicht-unterstützte Nebentätigkeiten ohne Einschränkungen erlauben.
Mit der Fokussierung auf die Kombination aus Körperhaltung/Zwangshaltung und Tätigkeit sowie der dazu passenden Exoskelett-Kategorie lässt sich die Exo-Matrix auch auf andere handwerkliche Bereiche außerhalb des SHK-Handwerks übertragen. Zu beachten ist hierbei aber, dass die abgeleiteten Gefährdungspotenziale sich auf die in der Badsanierung verwendeten Arbeitsmittel und Werkzeuge beziehen und Analysen anderer Gewerke hier zu anderen Ergebnissen führen können.
Ergänzende Informationen zur Exo-Matrix
Haben Betriebe identifiziert, welche Exoskelett-Kategorie sich für sie eignet, steht die Identifikation nach passenden Modellen aus den Kategorien an. Betriebe benötigen hier ein erweitertes Wissen, welche Systeme zur Verfügung stehen und wie die Informationen, die sie zu den einzelnen Systemen erhalten, von ihnen zu bewerten sind.
An dieser Stelle ist eine einfache, schematische Unterteilung der bestehenden Systeme nach „geeignet vs. ungeeignet“ durch das Projekt HWG 4.0 nicht vorgesehen gewesen. Zu unterschiedlich gestalten sich die Bedürfnisse der Betriebe und vor allem der einzelnen Beschäftigten. Das Projektziel war eine Zusammenstellung der wesentlichen Informationen zu den beiden Exoskelett-Kategorien, damit Endanwender eine Orientierung erhalten, worauf bei der Suche und der Bewertung von Exoskeletten für ihre Bedürfnisse geachtet werden sollte. Das Projekt HWG 4.0 hat hierzu Online-Seminare auf seiner Website bereitgestellt, die sich direkt an Handwerksbetriebe richten und in denen die Kategorien mit ihren möglichen Einsatzzwecken im Detail vorgestellt werden (s. „Weitere Infos“). Auf Basis der dort vorgestellten Informationen sind SHK-Betriebe in der Lage, die für ihren Einsatzzweck relevanten Informationen bei den jeweiligen Anbietern von Exoskeletten anzufragen und Praxistests mit ihren Beschäftigten zu organisieren. Den Anbietern kommt die Aufgabe zu, die speziellen Anforderungen von Handwerksbetrieben bei der Systemgestaltung abzubilden und die Bereiche, in denen das jeweilige System im Handwerkskontext eingesetzt werden könnte, verständlich zu kommunizieren.
Akzeptanz der Exoskelette durch die Beschäftigten
Das Projekt HWG 4.0 hat sich in Feldtests mit Betrieben sehr ausgiebig mit der Akzeptanz einzelner Systeme im Praxiseinsatz beschäftigt. Im Ergebnis wurde festgehalten, dass die Vor- und Nachteile einzelner Systeme von den Beschäftigten sehr unterschiedlich bewertet wurden. Die beiden großen Akzeptanzdeterminanten des Tragekomforts und der Gebrauchstauglichkeit werden in Abhängigkeit der Interaktion zwischen Mensch, Arbeitsaufgabe und Exoskelett in jedem Einzelfall individuell beurteilt. Es ist daher notwendig, dass Betriebe verschiedene Exoskelette mit ihrer Belegschaft in ihrer Arbeitspraxis testen. Aufgrund individueller Vorlieben könnten sich hierdurch innerhalb eines Betriebs auch verschiedene Exoskelette etablieren. Die Akzeptanz eines spezifischen Exoskeletts in der realen Anwendung basiert erfahrungsgemäß nicht auf theoretischen Angaben zur Unterstützung, sondern auf der Passfähigkeit im Hinblick auf die Arbeitsvorgänge, dem (Trage-)Komfort sowie der gefühlten Entlastung. Dieser Vorrang von subjektiver Bewertung (z. B. Tragekomfort) gegenüber objektiven Bewertungskriterien (z. B. Unterstützungsleistung) als wichtige Größe für die Akzeptanz von Exoskeletten an industriellen Arbeitsplätzen, wurde auch in der Fachliteratur nachgewiesen (Kuber et al. 2022)
Fazit
Die Exo-Matrix erleichtert die Zuordnung der beiden großen Kategorien von Exoskeletten zu den Arbeitstätigkeiten, die einer ergonomischen Unterstützung bedürfen. Dies ermöglicht SHK-Betrieben (und mit Einschränkungen ggf. auch anderen Handwerksbetrieben) ein geeignetes Exoskelett für ihre Anforderungen zu finden. Trotzdem kann es empfehlenswert sein, unterschiedliche Exoskelette aus der jeweiligen Kategorie im Praxiseinsatz zu testen.
Interessenkonflikt: Die Autoren sind bei der exoIQ GmbH, Hamburg, beschäftigt. Weitere Interessenkonflikte liegen nicht vor.
Literatur
Hauke A, Neitzner I: Branchenbild Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation. Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA), 2021.
Hoffmann N, Prokop G, Weidner R: Methodologies for evaluating exoskeletons with industrial applications. Ergonomics 2022; 65: 276–295.
Kim S et al.: Potential of exoskeleton technologies to enhance safety, health, and performance in construction: Industry perspectives and future research directions. IISE Transactions on Occupational Ergonomics and Human Factors 2019; 7: 185–191.
Kuber PM, Abdollahi M, Alemi MM, Rashedi E: A systematic review on evaluation strategies for field assessment of upper-body industrial exoskeletons: current practices and future trends. Annals of Biomedical Engineering 2022: 1–29.
Statistisches Bundesamt (Destatis): Produzierendes Gewerbe. Unternehmen, tätige Personen und Umsatz im Handwerk. In: Statistisches Bundesamt (Destatis: Jahresergebnisse. Berichtsjahr 2018, 2020.
Weidner R, Karafillidis A: Distinguishing support technologies. A general scheme and its application to exoskeletons. In: Karafillidis A, Weidner R (Hrsg.): Developing support technologies – integrating multiple perspectives to create assistance that people really want. Biosystems and Biorobotics. Vol. 23. Cham: Springer, 2018: S. 85–100.
doi:10.17147/asu-1-250945
Weitere Infos
Handwerksgeselle 4.0 –Die Zukunft gestalten
www.hwg40.de
Kernaussagen
Info
Passive und aktive Exoskelette
In der Fachliteratur werden Exoskelette anhand ihres verwendeten Antriebs in passive und aktive Exoskelette unterschieden. Die meisten marktverfügbaren Exoskelette sind passive Systeme. Bei diesen wird die Unterstützungskraft über eine passive Federmechanik erzeugt. Diese Art von Exoskelett ist in der Regel einfacher aufgebaut und zumeist leichter als die aktiven Systeme. Zunehmend sind jedoch auch aktive Exoskelette marktverfügbar. Sie erzeugen ihre Unterstützungskraft über beispielsweise Elektromotoren oder pneumatische Antriebe. Bei aktiven Exoskeletten lässt sich die Unterstützungskraft variabler gestalten und hierdurch verfügen sie tendenziell über eine größere Anpassungsfähigkeit an verschiedene Arbeitstätigkeiten. Für beide Kategorien gilt aber nach wie vor, dass sie auf die Unterstützung spezifischer Körperbereiche wie Schulter oder Rücken setzen. Zum Zeitpunkt der Entwicklung der Exo-Matrix (2019–2022) war der Markt an aktiven Systemen noch zu klein, um diese bereits in die Bewertung und Testung mit aufzunehmen.
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