Hintergrund
Berufe in der Baubranche sind mit 72 Prozent besonders häufig konfrontiert mit häufigem Heben und Tragen schwerer Lasten (Männer ab 20 kg, Frauen ab 10 kg) gegenüber übrigen Berufen mit 21 Prozent (BAuA 2014, s. „Weitere Infos“). Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes stellten im Jahr 2017 mit einem Anteil von etwa 29 Prozent die größte Diagnosegruppe dar und verursachten Brutto-Wertschöpfungsausfälle in Höhe von 1,78 Milliarden Euro (BAuA 2018, s. „Weitere Infos“). Das Heben und Tragen von Sackware bis zu 40 kg ist auch heute noch für viele Gewerke des Baus Alltag.
Der Einsatz entlastender technischer Maßnahmen wie zum Beispiel Hebe- und Transportmittel oder höhenverstellbare Tische sind durch ständig wechselnde Bedingungen auf unwegsamen Untergrund und durch häufige Ortswechsel gegenüber stationären Arbeitsplätzen wesentlich erschwert. Auch haben 85 Prozent der Betriebe in der Bauwirtschaft weniger als 10 Beschäftigte, was einen geringeren finanziellen Spielraum für Beschaffungen zulässt.
Noch fehlen praxistaugliche und wirtschaftliche technische Maßnahmen. Daher fällt der Reduzierung der Gebindegröße besondere Bedeutung zu.
Typische Belastungsengpässe
Bei der manuellen Handhabung von Sackware treten häufig stark gebeugte und verdrehte Körperhaltungen auf, die zu einer hohen Belastung des unteren Rückens führen. Hinzu kommen stark erhöhte Haltekräfte durch ungünstige Greifbedingungen und grundsätzlich hohe Belastung des gesamten Muskel-Skelett-Systems durch hohe Sackgewichte ab 25 kg bis 40 kg. Häufig liegen auch erschwerende Bedingungen durch klimatische Einflüsse und stressauslösende Faktoren wie Akkordarbeit und Termindruck vor. Die Handhabungshäufigkeiten pro Arbeitstag fallen gegenüber Arbeitsplätzen in der industriellen Fertigung eher geringer aus.
Manuelle Handhabung von Sackware bis 40 kg noch immer weit verbreitet
Aus ergonomischen Gründen wurde in Deutschland das Sackgewicht für genormte Zemente bereits 1994 von 50 kg auf 25 kg halbiert (Sprung et al. 1995). Untersuchungen mit reduzierten Gebindegrößen (21,4 kg statt 42,7 kg) in den USA bestätigen die auch hierzulande sehr hohe Akzeptanz bei Beschäftigten (Davis et al. 2010). Der Anteil von Zement in Form von Sackware hat in den letzten Jahren in Deutschland immer mehr an Bedeutung verloren (VDZ 2019). Anders sieht es bei Fertigbaustoffen wie Putz, Mörtel und Estrich aus. Diese bieten die notwendige Flexibilität bei Bereitstellung von Baustoffen auf Baustellen – häufig in kleineren Mengen und über längere Zeiträume – so dass ein anhaltender Bedarf an Sackware absehbar ist. Diese sind jedoch immer noch in bis zu 40-kg-Gebinden verfügbar. Gerade günstige Fertigbaustoffe aus Baumärkten, aber auch im Großhandel werden überwiegend in großen Gebinden bis 40 kg verkauft und sind auf Baustellen weit verbreitet. Hersteller haben für den gleichen Baustoff nur selten verschiedene Gebindegrößen (25/40 kg) im Programm. Eine stichprobenhafte Untersuchung der Angebote verschiedener Baustoffhändler anderer westeuropäischer Länder ergab, dass Fertigbaustoffe in Gebinden > 25 kg nur noch in Frankreich, Deutschland und Österreich verfügbar sind. Gleichzeitig zeichnet sich in den letzten Jahren auch in Deutschland ein Trend bei Angebot und Nachfrage hin zu 25-kg-Gebinden ab.
Typische Tätigkeiten mit manueller Handhabung von Sackware
Tätigkeit mit potenzieller Handhabung von Sackware bis 40 kg sind unter anderem Maurerarbeiten, Verputzarbeiten, Estrichlegearbeiten, Pflastererarbeiten, Fliesenlegearbeiten und Stuckarbeiten.
Für eine exemplarische Bewertung wurden drei typische Belastungssituationen alltäglicher Tätigkeiten mit Handhabung von Sackware ermittelt. Darunter fallen das manuelle Anrühren des Baustoffs in der Mörtelwanne, das Ansetzen des Baustoffs in einem Zwangsmischer und das Beschicken einer Putzmaschine mit Sackware (➥ Tabelle 1). Die Belastungsangaben schwanken in der Praxis stark und dienen hier lediglich der exemplarischen Betrachtung.
Beurteilung der Lastenhandhabung
Für die Beurteilung körperlicher Belastungen im Zuge der Gefährdungsbeurteilung nach Arbeitsschutzgesetz ist die Lastenhandhabungsverordnung zu beachten. Dabei ist die Belastungshöhe nicht nur pauschal vom Lastgewicht abhängig, sondern wird durch viele weitere relevante Kriterien bestimmt. Statt Beachtung pauschaler Lastgrenzwerte wird vom Betrieb immer eine individuelle tätigkeitsbezogene Beurteilung gefordert. Maßgeblich für die Belastungshöhe sind neben dem Lastgewicht auch Häufigkeit/Dauer der Umsetz- und Haltevorgänge, Körperhaltung sowie erschwerende Bedingungen wie beispielsweise Greifbedingungen, Bodenbeschaffenheit und klimatische Einflüsse.
Diese Kriterien werden zum Beispiel in den von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) entwickelte Leitmerkmalmethoden Heben – Halten – Tragen (LMM HHT) für eine überschlägige Bewertung berücksichtigt. Die Methode ist seit der Veröffentlichung im Jahr 2001 mittlerweile in Deutschland weit verbreitet und wurde im Rahmen des Kooperationsprojekts MEGAPHYS von BAuA und Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) umfassend überabeitet (BAuA 2019, s. „Weitere Infos“). Die Methode basiert auf der Berechnung einer Belastungsdosis, die sich als Produkt aus einer zeitlichen Wichtung und der Summe aller übrigen Belastungsmerkmale berechnet. Der Punktwert gibt dann die Belastungshöhe und den Grad der Wahrscheinlichkeit einer möglichen körperlichen Überbeanspruchung an. Die Punkte sind dabei einer Ampelbewertung in vier Risikostufen (grün 1: < 20 Pkt., grün 2: 20 bis < 50 Pkt., gelb: 50 bis < 100 Pkt., rot: ab 100 Pkt.) zugeordnet. Angaben zur Belastungshöhe (gering, mäßig erhöht, wesentlich erhöht, hoch), mögliche gesundheitliche Folgen sowie ein daraus resultierender Handlungsbedarf können direkt abgeleitet werden. Aufgrund geschlechterspezifischer Unterschiede werden die Werte separat für Männer und Frauen berechnet.
Beurteilung exemplarischer Tätigkeiten beim Umgang mit verschiedenen Gebindegrößen
Die Beurteilung mit der LMM HHT (2019) für Männer liefert für die weit verbreitete Sackware mit 40 kg für alle drei Tätigkeiten Ergebnisse bis weit in den roten Risikobereich (➥ Tabelle 2). Der sehr hohe Wert für die Beschickung der Putzmaschine ergibt sich maßgeblich aus der doppelten Anzahl der Umsetzvorgänge gegenüber den beiden anderen Tätigkeiten. Es ist von hohen Belastungen auszugehen. Eine körperliche Überbeanspruchung ist wahrscheinlich. Mögliche gesundheitliche Folgen können stärker ausgeprägte Beschwerden und/oder Funktionsstörungen sowie Strukturschäden mit Krankheitswert sein. Maßnahmen zur Gestaltung sind angezeigt. Sonstige Präventionsmaßnahmen sind zu prüfen. Arbeitsmedizinische Vorsorge nach arbeitsmedizinischer Vorsorgeverordnung ist anzubieten.
Die Reduzierung der Lasten auf 25 kg führt zur Absenkung der Belastungen in den grünen bis gelben Risikobereich. Bei der Tätigkeit „Mischer beschicken“ ist von mäßig erhöhten Belastungen (T2) und beim „manuellen Anrühren“ sowie beim Beschicken der Putzmaschine von wesentlich erhöhten Belastungen (T1, T3) auszugehen. Eine körperliche Überbeanspruchung ist im grünen Bereich bei vermindert belastbaren Personen und im gelben Bereich auch für normal belastbare Personen möglich. Hier sind Maßnahmen zur Gestaltung und sonstige Präventionsmaßnahmen zu prüfen. Arbeitsmedizinische Vorsorge nach arbeitsmedizinischer Vorsorgeverordnung ist anzubieten (s. auch ➥ Abb. 1–3).
Ressourcen der Beschäftigten berücksichtigen
Bei der Übertragung von Tätigkeiten mit Lastenhandhabung sind nach § 3 Lastenhandhabungsverordnung die Ressourcen der Beschäftigten zu berücksichtigen. Das Risikomodell der Leitmerkmalmethoden gibt über die Angabe der Belastungshöhe und die nach Personengruppen differenzierte Darstellung der Wahrscheinlichkeit einer möglichen körperlichen Überbeanspruchung eine erste Hilfestellung. Darüber hinaus ist zu beachten, dass unter anderem Kraftleistung sowie maximale kardiopulmonale und energetische Leistungsfähigkeit vom Geschlecht und vom Alter beeinflusst sein können. Während Letztere bereits um das 40. Lebensjahr abnehmen, ist bei der maximalen Muskelkraft erst ab dem 50. Lebensjahr und noch einmal verstärkt ab dem 60. Lebensjahr von einer Abnahme auszugehen. Die Werte im submaximalen Bereich zeigen jedoch kaum Unterschiede. Natürlich gibt es stets auch eine breite Streuung in allen Altersgruppen, so dass differenziertere Angaben nicht möglich sind. Die Datenlage gilt insgesamt als lückenhaft und aktualisierungswürdig (Hartmann et al. 2018).
Mit zunehmendem Alter ist weiterhin von einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit für kumulierte Vorschädigungen im Muskel-Skelett-System infolge des allgemeinen Erwerbslebens auszugehen.
Die BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 ergab, dass Belastungen durch Heben und Tragen schwerer Lasten (> 25 kg
Männer, > 10 kg Frauen) mit zunehmendem Alter zu einer wesentlich höheren Belastungswahrnehmung führen (58 % ab 55 Jahren, 42 % 15–34 Jahre; BAuA 2018, s. „Weitere Infos“). Die Befragungsergebnisse weisen auch darauf hin, dass Beschäftigte mit zunehmendem Alter seltener exponiert sind (BAuA 2018). Frühere Erhebungen der Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaften aus 2004 bestätigen diese Tendenz (s. „Weitere Infos“). Dies entspricht der Praxiserfahrung, dass hoch belastende Tätigkeiten tendenziell von den jüngeren Kollegen übernommen werden.
Fazit
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Davis KG, Kotowski SE, Albers J, Marras WS: Investigating reduced bag weight as an effective risk mediator for mason tenders. Appl Ergon 2010; 41: 822–831.
Hartmann B, Klußmann A, Serafin P: Physische Leistungsfähigkeit, Alter und Geschlecht – Zur Beurteilung gesundheitlicher Risiken bei körperlich belastenden Tätigkeiten, Teil 3: Daten zur kardiopulmonalen und energetischen Leistungsfähigkeit sowie gemeinsame Schlussfolgerungen. Zbl Arbeitsmed 2018; 68: 325–333.
Sprung S, Sybertz F, Thielen G: Die neue deutsche Zementnorm DIN 1164-1. Beton: Fachzeitschrift für Bau + Technik 1995; 45: 490–497.
Weitere Infos
Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaften: Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren in der Bauwirtschaft“ – ArGO ein Projekt der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover im Land Niedersachsen in Kooperation mit der AOK und der IKK; Abschlussbericht Hannover, 2004
https://www.bgbau.de/fileadmin/argo-abschlussbericht-1.pdf
BAuA: Arbeitsbedingungen am Bau – Immer noch schwere körperliche Arbeit trotz technischen Fortschritts. BIBB/BAuA-Faktenblatt 11, 2014
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fakten/BIBB-BAuA-11.pdf
BAuA: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2017. Unfallverhütungsbericht Arbeit, 2018, S. 246
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Suga-2017.pdf
BAuA: MEGAPHYS – Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz. Band 1, 2019
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2333.html
Neue Leitmerkmalmethoden der BAuA
https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitsgestaltung-im-Betrieb/Physische-Belastung/Leitmerkmalmethode/Leitmerkmalmethode_node.html
Onlineportal der BG BAU mit ergonomischen Lösungen
https://www.bgbau.de/service/angebote/ergonomische-loesungen/
Info
Ergänzende Maßnahmen zur weiteren Belastungsreduzierung
Einsatz von Siloware beziehungsweise Fahrmischer
Einsatz von Schrappern mit motorisiertem Beschicker
Bereitstellung der Baustoffe in großformatigen Einwegkartons
Vermeidung ungünstiger Körperhaltungen durch höhenverstellbare Bereitstellung von Gebinden mittels Hubtisch und/oder Hubwagen auf Hüfthöhe
Nutzung von elektrischen Treppensteigern
Unterweisung zu rückengerechten Arbeitshaltungen direkt am Arbeitsplatz und regelmäßiges Rückentraining