Wir müssen bei allen Prozessen von Arbeiten 4.0 von Anfang an darauf achten, dass die Arbeit gesundheitsgerecht und menschengerecht gestaltet wird und dass die Beschäftigten keinen arbeitsbedingten Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt sind. Wir müssen uns dabei mit folgenden Fragen auseinandersetzen:
- Welche Anforderungen ergeben sich dadurch, dass Mensch und Maschine immer stärker verzahnt sind?
- Wie wirken sich die neuen Gestaltungsformen auf die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten aus?
- Wie können wir durch die neuen Gestaltungsformen entstehenden Belastungen begegnen?
Bei Fragen, die die Gesundheit am Arbeitsplatz betreffen, benötigen Arbeitgeber und Beschäftigte auch künftig arbeitsmedizinischen Rat. Zentrale Fragestellungen sind:
- Wie kann die Arbeit an die Beschäftigten angepasst werden?
- Wie können auch neue Arbeitsbelastungen vermieden werden, die krank machen?
- Wie können wir die Beschäftigten unterstützen und ihre Gesundheitskompetenz stärken?
Auch die Politik ist beim Thema Arbeiten 4.0 auf arbeitsmedizinische Expertise angewiesen. Der Ausschuss für Arbeitsmedizin beim BMAS ist ein wichtiger Ansprechpartner. Aus der Digitalisierung der Arbeit ergeben sich einige Erwartungen an die Arbeitsmedizin der Zukunft, die sich sowohl an die Arbeitsmedizin als Fachgebiet als auch an die praktische Arbeit der Betriebsärzte richten: Arbeitgeber und Beschäftigte müssen über die Wechselwirkungen zwischen den neuen Arbeitsformen und der Gesundheit gut informiert sein. Arbeitsmedizinische Forschung sollte belastbare arbeitsmedizinische Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sich die neuen Entwicklungen der digitalisierten Arbeit auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken, welche Gestaltungsmaßnahmen gesundheitsgerecht und gesundheitsförderlich sind, welche Monitoring-Verfahren in Betracht kommen und welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden können.
In der Praxis ist wichtig, dass Arbeitgeber und Beschäftigte in allen Gesundheitsfragen gut beraten werden. Dies gilt auch für kleine und mittlere Betriebe. Betriebsärzte müssen Impulsgeber für eine ganzheitliche Prävention sein, die gesundheitliche Belastungen und Beanspruchungen identifizieren und bewerten und die Verhältnisprävention mit der Verhaltensprävention und mit der arbeitsmedizinischen Vorsorge verzahnen. Das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) beschreibt ärztliche Aufgaben im Betrieb, die unverändert aktuell auch für die zukünftigen Arbeitsverfahren und -prozesse von Bedeutung sind. Dies beginnt bei der Planung und Ausführung von Betriebsanlagen und -prozessen, das heißt bei der gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung. Dazu gehören auch die betrieblichen Strukturen, die unter anderem von Kommunikationsverhalten, Führungsstil, Personalplanung und Fortbildungsmaßnahmen geprägt werden.
Arbeitsmedizinische Expertise wird bei der Gefährdungsbeurteilung, dem zentralen Element des Arbeitsschutzes, immer wichtiger werden, denn die Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesundheit werden durch zunehmende Verdichtungen komplexer werden. Unverändert gilt: Die Gesundheitsgefahren müssen möglichst an der Quelle vermieden werden. Für mobiles Arbeiten bedeutet das beispielsweise, dass die räumlichen Rahmenbedingungen passen und Hard- und Software stimmen (z. B. ist nicht jeder Laptop dafür geeignet). Darüber hinaus muss die Arbeitsmedizin im Betrieb für eine gute kollektive Aufklärung und Beratung sorgen, die Arbeitgebern und Beschäftigten mehr Gesundheitsbewusstsein verschafft.
Es ist davon auszugehen, dass die zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit höhere Anforderungen an die Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten für ihre Gesundheit stellt. Dort, wo Arbeit von jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit erfolgen kann, werden die Arbeitnehmer noch mehr als heute selbst auf die Auswirkungen ihrer Arbeit auf ihre Gesundheit achten müssen.
Arbeitsmedizinische Vorsorge kann die Gesundheitskompetenz jedes Einzelnen stärken. Dabei werden Beschäftigte persönlich über die Wechselwirkungen zwischen ihrer Arbeit und ihrer Gesundheit aufgeklärt und dazu beraten. Die Auswertung der arbeitsmedizinischen Vorsorge gewährleistet darüber hinaus eine Rückwirkung auf die Gefährdungsbeurteilung sowie auf die Arbeitsgestaltung und damit eine Verbesserung der Verhältnisprävention. Wunschvorsorge, die bei grundsätzlich allen Tätigkeiten ermöglicht werden muss, sollte im Kontext von Arbeiten 4.0 systematisch mitgedacht werden. Arbeitsmedizinische Vorsorge kann zudem durch Maßnahmen der allgemeinen Gesundheitsvorsorge ergänzt werden, die einen weiteren Beitrag zur Gesundheitskompetenz leisten können.
Technische Entwicklungen machen auch vor der Medizin selbst nicht halt. Die Arbeitsmedizin sollte sich dieser Entwicklung auch in eigener Sache stellen und ausloten, welche telemedizinischen Instrumente im betriebsärztlichen Handeln sinnvoll und verantwortungsbewusst eingesetzt werden können. Das ärztliche Berufsrecht verlangt eine regelmäßige Fortbildung. In der Arbeitsmedizin werden auch künftig gute Aus- und Fortbildungsangebote benötigt, in denen Studenten und Ärzte auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeiten 4.0 inhaltlich gut vorbereitet werden.
Von der Arbeitsmedizin der Zukunft erwarte ich ein ganzheitliches Verständnis. Um den veränderten und komplexen Anforderungen der neuen Arbeits(zeit)formen gerecht zu werden, wird es in der Arbeitsmedizin zunehmend darauf ankommen, nicht nur Einzelexpositionen zu betrachten, sondern immer die gesamte Arbeitssituation und den ganzen Menschen in Blick zu nehmen. Dies gilt auch und besonders unter den Bedingungen von Arbeiten 4.0.
Autor
Hans Peter Viethen
Leiter der Abt. „Arbeitsrecht und Arbeitsschutz“
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
Rochusstraße 1 – 53123 Bonn