Einleitung
Wegen des zunehmenden Durchschnitts-alters von Belegschaften und steigender Anforderungen werden viele Betriebe zukünftig immer mehr bestrebt sein, bei gesundheitlichen oder funktionsbedingten Einschränkungen ältere Fachkräfte zu behalten. Diese begehren auch immer öfter, länger am Erwerbsleben teilzuhaben. Daraus erwächst als Zukunftsaufgabe für Betriebsärzte, Brücken hierfür zu bauen, speziell dann, wenn Tests, so bei speziellen Eignungsuntersuchungen (z. B. G 25, G 26.3, G 41 oder FeV) Werte im Grenzbereich eines Regelwerks ergeben. Regelwerke orientieren sich an großen Kol-lektiven, während der Betriebsarzt den Einzelfall zu entscheiden hat. Und dabei kann es durchaus Argumente geben, im Interesse des Arbeitnehmers oder des Betriebs eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen. Dies gilt auch für Reha-Maßnahmen oder das Be-triebliche Eingliederungsmanagement. Andererseits kommt es sogar vor, dass Betriebs-ärzte – in Begleitung eines Rechtsbeistands – bedrängt werden, eine klar unberechtigte Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahr-ordnung (2014) werden von zuständigen Experten erarbeitet und „nach Genehmigung durch Bund und Länder“ veröffentlicht (S. 6). Sie „dienen der Einzelfallgerechtigkeit …“ (S. 6). Weiterhin heißt es: Bei „Erstellung der Beurteilungsgrundsätze wurden sowohl die Bedürfnisse des Einzelnen zur Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr als auch das Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit berücksichtigt“ (S. 7).
Mit folgenden Formulierungen der Begut-achtungsleitlinien wäre eigentlich alles zum Thema Ausnahmegenehmigungen im Rahmen von Begutachtungen anhand vielfältiger arbeitsmedizinischer Leitlinien und Regelwerke gesagt: „Bei der Beurteilung der Fahr-eignung wird davon ausgegangen, dass ein Betroffener ein Kraftfahrzeug nur dann nicht sicher führen kann, wenn aufgrund des indi-viduellen körperlich-geistigen (psychischen) Zustandes beim Führen eines Kraftfahrzeugs eine Verkehrsgefährdung zu erwarten ist.
Für die gerechtfertigte Annahme einer Verkehrsgefährdung muss die nahe durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schädigungsereignisses gegeben sein. Die Möglichkeit – die niemals völlig auszuschließen ist –, dass es trotz sorgfältiger Abwägung aller Umstände ein-mal zu einem Schädigungsereignis kommen kann, wird für die Fälle der empfohlenen po-sitiven oder bedingt positiven Begutachtung hingenommen. Die Grenze zwischen den Bereichen positiv (auch bedingt positiv) bzw. negativ zu beurteilender Fälle ist nur unter Beachtung des Einzelfalls zu ziehen. Dass Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagungen, durch Gewöhnung, be-sondere Einstellung oder besondere Verhal-tenssteuerungen und -umstellungen möglich sind, kann als erwiesen angesehen werden. Im Einzelfall hat jeder Gutachter unter Berücksichtigung der speziellen Befundlage aber die Kompensationsfrage zu prüfen“.
Wenn entsprechende, präzise Formulierungen bei anderen Regelwerken fehlen, dann soll für Skeptiker am Prinzip von Aus-nahmegenehmigungen der Wert dieser quasi amtlichen Hinweise aus arbeitsphysiologischer Sicht näher begründet werden:
Zielsetzung
Die o. g. Begutachtungsleitlinien plädieren nach Genehmigung durch Bund und Länder ausdrücklich für eine Güterabwägung, bei der mit dem Stichwort „Einzelfallgerechtigkeit“ auch die „Bedürfnisse des Einzelnen“ zu berücksichtigen sind. Dabei geht es auch um den „individuellen körperlich-geistigen (psychischen) Zustand“. Es wird also mehrfach auf den notwendigerweise zu berücksichtigenden Einzelfall hingewiesen. Kon-sequenterweise findet man dann auf S. 25 und S. 87 expressis verbis Hinweise auf „Aus-nahmen“.
Ausnahmeregelung in der Arbeitsstättenverordnung
In der alten Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV, 1975) bezog sich § 4, ausdrücklich auf Ausnahmen, was wie folgt kommentiert wurde: „Dieser Paragraph trägt der Tatsache Rechnung, daß im technischen Recht starre, auf alle Einzelfälle und unter allen Umstän-den anwendbare Regelungen nicht getroffen werden können und daher unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen möglich sein müssen. Der Begriff «Ausnahmen» in der Überschrift ist in einem weitgefaßten Sinn zu verstehen …“ (Heinen et al. 1996). Für den Autor gibt keinen sachlichen Grund, dies heute nicht mehr gelten zu lassen, auch wenn in der neuen ArbStättV (2004) Regelungen über Ausnahmen fehlen.
„Positive oder bedingt positive Begutachtung“
Der Hinweis, dass die Möglichkeit niemals völlig auszuschließen ist, wonach es „trotz sorgfältiger Abwägung aller Umstände einmal zu einem Schädigungsereignis kommen kann“, entspricht der Realität genauso wie Grundsätzen der Teststatistik. Es soll hier aus-drücklich daran erinnert werden, dass falsch-positive wie falsch-negative Testergebnisse nie auszuschließen sind. Dies sollte jedem Gutachter klar sein und er muss mit solchen Fehlentscheidungen auch leben können, was ihn aber nicht von der Sorgfaltspflicht ent-bindet. Die Gütekriterien Spezifität und Sen-sitivität geben maßgebliche Auskunft über den Prozentsatz von Fehlentscheidungen. Dieser hängt sehr von der Lage des Entschei-dungskriteriums ab. Legt man dies sehr streng an, so hat man zwar einen hohen Prozentsatz an richtig-positiven Entscheidungen, aber gleichzeitig einen hohen Prozentsatz an falsch-negativen und umgekehrt. Hinzu kommt, dass bei geringer Prävalenz eines Merkmals das Risiko groß ist, mehr falsch-positive als richtig-positive Testergebnisse zu finden. Damit ist die geforderte „Einzelfall-gerechtigkeit“ tangiert. Mit wenigen Ausnahmen sind die Gütekriterien Sensitivität und Spezifität für die DGUV-Grundsätze aber nicht bekannt, obwohl diese seit mehr als vier Jahrzehnten eingesetzt werden. Der Gutachter bewegt sich also wie bei vielen anderen Regelwerken auf teststatistisch dünnem Eis und sollte zusätzliche Möglichkeiten zur abschließenden Urteilsfindung einsetzen.
Einzelfallentscheidung
Im Vorwort zu den DGUV-Grundsätzen (2014) wird ausgeführt: „Sie schränken die ärztliche Handlungsfreiheit aber nicht ein, denn sie haben Empfehlungscharakter im Sinne einer „best practice“ und geben den notwendigen Handlungsspielraum, um auf jeden Einzelfall eingehen zu können“. Zu diesem Plädoyer für Einzelfallentscheidungen ergänzt der Autor: Richt- bzw. Schwellenwerte in Re-gelwerken sind meistens mittelwertorien-tiert, sie berücksichtigen daher biologisch bedingte Streuungen nicht. Eine Plausibilitätsprüfung sollte also im Einzelfall stets erfolgen.
Objektiv ist nicht zwingend valide
Freunde des Testens berufen sich oft auf die Objektivität harter Daten und verschmähen andere Möglichkeiten zur Erkenntnisgewin-nung. Sie verwechseln dann Objektivität und Validität und bedenken nicht, dass nur das getestet werden kann, wofür es Tests gibt. Viele Aspekte des komplexen und aufgaben-spezifischen beruflichen Leistens sind aber nicht testbar, Tests ergeben daher ein redu-ziertes Abbild. Nur, wenn man die berufliche Leistungsfähigkeit unter realen Bedingungen analysiert, wird dies der Komplexität beruf-lichen Leistens gerecht. Alternativ sollte der Expertenblick für weiche Daten in der beruf-lichen Situation eingesetzt werden, auch wenn dieser subjektiv ist. Im Leistungssport ist er in kompositorischen Sportarten, die physikalisch nicht messbar sind, überall an-erkannt: subjektiv und valide. Es kommt also darauf an, welcher Stellenwert subjektiven Methoden beigemessen wird.
Abstrakte und konkrete Leistungsfähigkeit
Mit üblichen Leistungstests außerhalb des Ar-beitsplatzes wird zwar unter standardisierten Bedingungen eine abstrakte Leistungsfähigkeit erfasst, die aber die komplexe, kon-krete Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz nur mehr oder weniger reduziert abbildet. Harte Daten über leistungsrelevante Funktionen können sich nur auf eine abstrakte Leistungs-fähigkeit beziehen. Im Zweifelsfall sollte da-her die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz bzw. realitätsnahen Simulator und nicht die im Testlabor entscheiden.
Zur Komplexität einer Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz
Eine Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz ergibt sich nicht als Summe vielfältiger Fakto-ren, sondern durch komplex (additiv, kompensierend oder potenzierend) vernetzte Einflussgrößen. Insofern gelten dann auch typische Eigenschaften komplexer Systeme (s. Infokasten), aus denen ebenfalls Zurückhaltung bei allein auf harten Daten basierenden Entscheidungen resultiert.
Konsequenzen für Ausnahme-genehmigungen im Einzelfall
Die Frage einer Ausnahmegenehmigung stellt sich für den Gutachter nicht bei eindeutigen Befunden, sondern dann, wenn grenzwertige Befunde vorliegen oder deren Plausibilität zweifelhaft ist.
Bei Funktionseinbußen z. B. von Seh- und Hörfunktionen, findet man einen Hinweis in Anlage 6 (2010) Nr. 1.3 der Fahrerlaubnis-verordnung (FeV): „Die Erteilung der Fahr-erlaubnis darf in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden, wenn die Anforderungen an das Gesichtsfeld oder die Sehschärfe nicht erfüllt werden. In diesen Fällen muss der Fahrzeugführer einer augenärztlichen Begutachtung unterzogen werden … Daneben sollte der Fahrzeugführer oder Bewerber eine praktische Fahrprobe erfolgreich absolvieren“. Was hier nebenbei unter „daneben sollte“ als Ergänzung beschrieben wird, stellt aus den dargelegten Gründen eine ganz we-sentliche Validitätsprüfung für alle harten Da-ten anhand der konkreten Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz dar. Eine solche praxisnahe Validitätsprüfung ist als beispielhaft auch für andere Anlässe ausdrücklich zu befürworten.
Bei gesundheitlichen Einschränkungen (z. B. Diabetiker, Koronarpatienten) liegt eine andere Situation vor und zweifelsfrei bedarf es einer umfangreichen klinischen Erfah-rung – mehr möchte der Autor aus arbeitsphysiologischer Sicht hierzu nicht ausführen. Exemplarisch sei auf den Beitrag Kuhlmann verwiesen. Zu juristischen Aspekten soll auf den Beitrag Hellmann verwiesen werden.
Kompensationsfrage
Deren Bedeutung im zu beurteilenden Einzelfall wurde mit zahlreichen Bespielen in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrordnung beschrieben. Die hier vorgestellten arbeitsphysiologischen Überlegungen sollen auf den hohen Stellenwert individueller Kompensationsmechanismen bei Prüfung der konkreten Leistungsfähigkeit hinweisen, beispielhaft mit der „praktischen Fahrprobe“ in der FeV geregelt.
Bedeutung der Erfahrung
Zu den Kompensationsmechanismen gehört auch die mit zunehmendem Alter wach-sende Erfahrung des zu Beurteilenden. Dies wird bei den meisten Regelwerken mit fixen „Normwerten“ nicht berücksichtigt. Auch der beurteilende Betriebsarzt bedarf einer gehörigen Portion an Erfahrung, um bei einer Ausnahmegenehmigung den Anspruch einer Einzelfallgerechtigkeit zu erfüllen. Dies schließt auch die Abwehr eines offensichtlich unbegründeten Begehrens nach einer Ausnahmegenehmigung ein. Aus der ärztlichen Handlungsfreiheit ergibt sich, dass die ärztliche Beurteilung im Einzelfall nicht nur auf „objektiven Tests“ basieren sollte, sondern aus den dargelegten Gründen auch auf weiteren Sachverhalten, speziell Kompensationsmechanismen.
Erfahrung muss erworben werden, das braucht Zeit und dies gilt auch für den Betriebsarzt. Er sollte nun durch die mehrfachen Hinweise auf die notwendige Erfahrung nicht demotiviert werden. Als Ausweg sollte bei Problemfällen an die konsiliarische Beratung mit einem erfahrenen Kollegen, Mitwirkung der Fachkraft für Arbeitssicherheit oder auch an Qualitätszirkel, von denen es aber derzeit nur wenige zu geben scheint, gedacht werden. Aus der Erfahrung erwächst die Kompetenz des Betriebsarztes. Er ist mehr als ein Regelverwalter auf der Basis harter Daten (das könnte man IT-Systemen überlassen) und er sollte diese Kompetenz bei seinen Begutachtungen auf die Waagschale legen. Dies gilt auch gegenüber Berufskollegen, wenn diese ohne Kenntnis der speziellen Arbeitsplatzsituation Atteste über Arbeitsplatz- und Ablaufgestaltung ausstellen.
Literatur
DGUV (Hrsg): DGUV-Grundsätze für arbeits-medizinische Untersuchungen, 6. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2014.
Heinen W, Tentrop F, Wienecke J, bearbeitet von Tentrop F, Wienecke J: Arbeitsstätten – Medizini-scher und Technischer Arbeitsschutz – Kommen-tar, Loseblattsammlung, Stand September 1996. Stuttgart Berlin Köln.
Ulmer H-V: Zur Problematik der arbeitsmedizi-nischen Leistungsdiagnostik. In: Hofmann F, Kralj N (Hrsg.): Handbuch der betriebsärztlichen Praxis. Landsberg: ecomed, 2003, S. 10.1.1-1 bis 10.1.1-15.
Info
Typische Eigenschaften komplexer Systeme (Ulmer 2003)
- Sie können, müssen aber nicht linear reagieren (Problem des Dosis-Wirkungs-Konzepts)
- Daher können auch kleine Ursachen große Wirkungen haben
- Sie können sprunghaft reagieren
- Dies gilt auch für Prognosen im Einzelfall auf der Basis durchschnitts-orientierter Grundsätze.
Weitere Infos
Anlage 6 (2010) (zu den §§ 12, 48 Absatz 4 und 5): Anforde-rungen an das Sehvermögen zu: Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV), Bundes-gesetzblatt I, 2034–2044
www.gesetze-im-internet.de/fev_2010/anlage_6.html
ArbStättV (1975) – Verordnung über Arbeitsstätten (Arbeits-stättenverordnung). Bundesgesetzblatt I, 1975, S. 729
www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/arbst_ttv/gesamt.pdf
ArbStättV (2004) – Verordnung über Arbeitsstätten (Arbeits-stättenverordnung). Bundesgesetzblatt I, 2004, S. 179
www.gesetze-im-internet.de/arbst_ttv_2004/inhalts_bersicht.html
Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrordnung (Stand 1. Mai 2014), bearbeitet von N. Gräc-mann u. M. Albrecht. Bundesanstalt für Straßenwesen
bast.de/DE/FB-U/Fachthemen/BLL/Begutachtungsleitlinien-2014.pdf?__blob=publicationFile
FeV (2015) Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr – Fahrerlaubnis-Verordnung (Stand: 01. 01. 2015)
www.fahrerlaubnisrecht.de/FeV%20neu/FeV%20Endfassungen/FeV%20ab%2001.01.2015 %20neutral.pdf
Autor
Prof. i. R. Dr. med. Hans-Volkhart Ulmer
Facharzt für Physiologie
Institut für Sportwissenschaft
Saarstraße 21 – 55099 Mainz