Hintergrund und Ziel der Leitlinie
Insbesondere in der Industrie, im öffentlichen Dienst (z.B. Polizei, Feuerwehr etc.) und im Gesundheitswesen sind Schichtdienstsysteme notwendig. Hinzu kommen vermehrt ausgedehnte Öffnungs- und Betriebszeiten zum Beispiel im Dienstleistungsgewerbe. Eine Tätigkeit in Schichtarbeit geht mit einer großen Belastung für die Beschäftigten einher.
In der wissenschaftlichen Literatur zeigt sich, dass Nacht- und Wechselschichten zu einer Disruption der zirkadianen Rhythmik und zu einem Schlafdefizit und Schlafstörungen führen können. Mögliche Folgen sind Müdigkeit, verminderte physische und kognitive Leistungsfähigkeit und auch kardiovaskuläre Erkrankungen sowie Stoffwechsel- und Krebserkrankungen.
Auch neurologische und psychische Erkrankungen wie die Depression werden als gesundheitliche Folgen diskutiert. Die Studienlage weist jedoch teilweise konträre und inkonsistente Ergebnisse auf.
Daher ist es das Ziel dieser Leitlinie, auf der Basis von orientierenden und systematischen Literaturauswertungen die aktuelle, bestehende Evidenz zu gesundheitlichen Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit zusammenzustellen, zugänglich zu machen und Empfehlungen für die Praxis und zur Schichtplangestaltung zu geben. Weiterhin soll der Forschungsbedarf in den Themenfeldern zur Nacht- und Schichtarbeit deutlich werden.
Anwenderzielgruppe
Die Leitlinie richtet sich an Ärztinnen und Ärzte in der Arbeits- und Betriebsmedizin, an Sozialmedizinerinnen und -mediziner, Arbeitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Psychiaterinnen/Psychiater und Psychologinnen und Psychologen. Sie dient der Information für Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner und staatliche Gewerbeärztinnen und -ärzte, aber auch für Fachärztinnen und -ärzte aller Fachgebiete, die die Beschäftigten in Nacht- und Schichtarbeit in Bezug auf die möglichen arbeitsbedingten gesundheitlichen Folgen beraten und behandeln. Sie richtet sich aber auch an die mit der Thematik beschäftigten Vertreterinnen und Vertreter im Gesundheits- und Sozialwesen (z.B. Krankenkassen, Kostenträger, Firmen), die Sozialpartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) und deren Vertretungen, alle Experten im Arbeits- und Gesundheitsschutz und natürlich die Beschäftigten in Nacht- und Schichtarbeit selbst.
Zusammensetzung der Leitliniengruppe
In der Leitliniengruppe waren Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner vertreten, die wissenschaftlich in der Thematik „Schichtarbeit“ geforscht haben und die in Unternehmen aktiv in der dortigen betriebsmedizinischen Abteilung tätig sind/waren. Weitere Mitglieder der Leitliniengruppe waren Ärztinnen und Ärzte, Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus den Bereichen Schlafmedizin und Psychiatrie beziehungsweise Sozialmedizin, Epidemiologie und Public Health.
Methode (Literaturrecherche)
In der Leitlinienerstellung wurden für jedes der Kapitel jeweils Schlüsselfragen zur möglichen Kausalbeziehung zwischen der Exposition „Nacht- und Schichtarbeit“ und der in dem Kapitel bearbeiteten Erkrankung (bzw. gesundheitliche Auswirkung) formuliert. Die Schlüsselfrage bezog sich darauf, ob Schichtarbeiterinnen und -arbeiter ein verändertes Risiko für diese Erkrankung im Vergleich zu Beschäftigten haben, die nicht in Schichtarbeit tätig sind. Diese ätiologischen Schlüsselfragen zielten darauf, Aussagen zu einem möglichen Effekt der Schichtarbeit auf die in dem Kapitel bearbeitete Erkrankung ableiten zu können. Um anhand der wissenschaftlichen Literatur auch Empfehlungen zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention ableiten zu können, wurden von den Autorinnen und Autoren auch handlungsleitende Fragen formuliert. Anhand dieser Fragen sollte abgeleitet werden, ob zum Beispiel ein primärpräventiver Effekt durch eine Reduktion von Nachtarbeit beziehungsweise eines bestimmten Schichtsystems erzielt werden kann. Schlüsselfragen zur Sekundär- oder Tertiärprävention richteten den Fokus darauf, ob sich die Prognose von Beschäftigten mit einem ungünstigen Risikoprofil für eine untersuchte Erkrankung beispielsweise durch die Reduktion von Nachtarbeit verringern ließe beziehungsweise ob Beschäftigte mit einer Vorerkrankung zum Beispiel durch den Wechsel in ein anders Schichtsystem eine günstigere Prognose haben.
Auf der Basis dieser Schlüsselfragen wurden für themenspezifische Kapitel systematische und orientierende Literaturrecherchen durchgeführt. Für die Literaturrecherchen wurde von den jeweiligen Autorengruppen der Kapitel ein einheitlicher Suchstring zur Beschreibung der Exposition „Nacht- und Schichtarbeit“ angewendet, der von der Leitliniengruppe in einer Sitzung gemeinsam beschlossen wurde. Dieser Suchstring wurde dann jeweils thematisch mit der Zielgröße „Erkrankung“ verknüpft und angewendet.
Für die Ableitung der Empfehlungen der Leitlinie (LL) wurden in erster Linie recherchierte Meta-Analysen und systematische Reviews herangezogen. In den Kapiteln, in denen eine systematische Literaturrecherche durchgeführt wurde, wurde die identifizierte Literatur anhand von SIGN-Checklisten bewertet.
Entwicklung der Empfehlungen
Die Empfehlungen wurden auf der Basis der Ergebnisse der Literaturanalyse von den Autorinnen und Autoren der thematischen Kapitel entwickelt. Sofern auf dieser Basis der Literaturanalyse möglich beziehungsweise notwendig wurden sowohl Empfehlungen zur Primärprävention als auch zu Sekundär- und Tertiärprävention formuliert. Diese Empfehlungen sollen dabei unterstützen, wenn zum Beispiel bei einer bestehenden, chronischen Erkrankung entschieden werden soll, ob eine Tätigkeit an einem Arbeitsplatz in Schichtarbeit fortgesetzt werden kann beziehungsweise welche anderen Optionen in solchen Situationen von Betroffenen, Arbeits- sowie Betriebsmedizinerinnen und -medizinern herangezogen und abgewogen werden können.
Alle Empfehlungsformulierungen wurden in der Leitliniengruppe im Rahmen von Treffen und für zwei Kapitel abschließend in einem modifizierten, schriftlichen Delphi-Verfahren mit einem strukturierten Abstimmungsbögen unter den Mandatsträgerinnen und -trägern diskutiert und abgestimmt. Bei den Präsenztreffen wurde der nominale Gruppenprozess als formales Konsensfindungsverfahren angewendet. Die von Autorinnen und Autoren des Kapitels entwickelten Formulierungen der Empfehlungen wurden präsentiert und diskutiert. Die Mitglieder der Leitliniengruppe und die stimmberechtigten Mandatsträgerinnen und -träger der beteiligten Fachgesellschaften diskutierten gemeinsam, ob sie der jeweiligen vorgestellten Formulierung und der gewählten Empfehlungsstärke zustimmen. Die final abgestimmten Formulierungen der Empfehlungstexte wurden konsentiert.
Die Empfehlungen wurden jeweils als Kapitelabschluss in den Gesamttext der Leitlinie eingefügt, so dass die Nutzerinnen und Nutzer der LL, die sich zu einem möglichen Vorgehen oder einer Maßnahme in Bezug auf eine bestimmte Erkrankung oder gesundheitliche Beeinträchtigung informieren wollen, diese spezifischen Empfehlungen in dem jeweiligen Kapitel nachlesen können.
Ergebnisse
Die Leitlinie umfasst neben einleitenden Kapiteln zur Chronobiologie, Häufigkeit von Schichtarbeit in Deutschland und rechtlichen Grundlagen zehn Themenfelder, die sich mit den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Symptomen und Erkrankungen als mögliche Folgen von Nacht- und Schichtarbeit befassen, die bisher in medizinisch-epidemiologischen Studien wissenschaftlich untersucht wurden. Die Gliederung der Leitlinie wird durch diese Themenfelder vorgegeben.
Die Themenfelder der Leitlinie sind:
In der Leitlinienerstellung wurden insgesamt 59 einzelne Empfehlungen zu den spezifischen Themenfeldern erarbeitet. Zu den Auswirkungen auf den Schlaf wurden insgesamt 15 Empfehlungen erstellt, zu den anderen gesundheitlichen Beschwerden und Erkrankungen wurden zwischen zwei und sieben Empfehlungen anhand der Literatur und Expertise der Beteiligten entwickelt. Diese Empfehlungen werden im abschließenden Teil der LL in einem separaten Kapitel zusammengefasst in Tabellen dargestellt. Weitere Kapitel befassen sich mit der Schichtplangestaltung und der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei Nachtarbeit. Das Kapitel zur Schichtplangestaltung umfasst unter anderem Empfehlungen zu Schichtzeiten und -dauer, Rotation und freier Zeit zwischen den Schichten.
Leitlinienniveau und beteiligte Fachgesellschaften: Die neu erstellte Leitlinie zu Nacht- und Schichtarbeit ist eine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF). Die Leitlinie entspricht dem Niveau S2k. Die Erarbeitung der Leitlinie erfolgte gemäß den formalen Anforderungen in einer für den Adressatenkreis repräsentativen Leitliniengruppe und schloss mit einem strukturierten Prozess der Konsensfindung ab (AWMF Regelwerk, Version 1.1 vom 27.02.2013). Die Leitlinie wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) mit Beteiligung der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA), der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutschen Fachgesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V. (DGSMP) erstellt.
Die Langfassung der Leitlinie ist auf der Website der AWMF abrufbar. Bitte beachten Sie, dass stets die aktuell gültige Version dieser Leitlinie anhand der AWMF Website zitiert werden sollte:
https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/002-030.html
Nächste Überprüfung geplant: 31. Oktober 2025
Anmerkungen und Kommentare können an die Leitlinienkoordination, Prof. Dr. med. Volker Harth, ZfAM, UKE Hamburg (harth@uke.de), oder an leitlinien@dgaum.de übermittelt werden.