Versorgungsdefizite in der Pflege als gesellschaftliche Herausforderung
Die absehbaren Versorgungsdefizite in der Pflegebranche sind eine breit diskutierte gesellschaftliche Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, ehe es zu größeren Einschränkungen der Qualität in der Betreuung von Patientinnen und Patienten sowie Bewohnerinnen und Bewohnern kommt. Aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland kommt es zu einer gravierenden Veränderung der Altersstruktur – der Anteil an älteren und somit auch zu pflegenden Menschen steigt ebenso wie die Lebenserwartung. Dem gegenüber stehen jedoch deutlich weniger arbeitsfähige Menschen, die deren Versorgung übernehmen könnten. Vor allem in der Altenpflege führen belastende und unattraktive Arbeitskonditionen wie etwa Schichtarbeit, das EU-weit schlechteste Bewohner-Beschäftigten-Verhältnis (Aiken 2012) und schwere körperliche Arbeit bei gleichzeitig hohen psychischen Anforderungen zu einer verminderten Attraktivität des Berufsbildes. Viele (Ausbildungs-)Stellen bleiben daher unbesetzt. Um dem so genannten Pflegenotstand entgegenzuwirken, wurde die Politik bereits aktiv und hat beispielsweise 2018 das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PpSG) verabschiedet, das ab 2019 in Kraft trat. Ziel war es, die Rahmenbedingungen für die Beschäftigten der Alten- und Krankenpflege zu verbessern – beispielsweise durch optimierte Pflegepersonaluntergrenzen. Doch auch andere Akteure beteiligen sich an der Problemlösung, auf die in den folgenden Abschnitten näher eingegangen wird.
Digitalisierung als Megatrend
Digitalisierung gilt längst als ein globaler Megatrend, der rasante Entwicklungen wie Big Data oder Industrie 4.0 vereint. Unternehmen werden zunehmend mit den umfangreichen Chancen und Risiken dieses Trends konfrontiert oder sind bereits ein Teil davon. Aufgrund vielfältiger neuer Technologien eröffnen sich unzählige alternative Handlungs-, Führungs- und Prozessoptionen für die Betriebe. Das wirtschaftliche Vorgehen kleiner, mittelständischer und Großbetriebe, aber auch das von Selbstständigen ist stark geprägt von technologischen Aspekten – nichts scheint mehr unmöglich. Inzwischen gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, um beispielsweise Kunden zu erreichen, Produkte und Dienstleistungen zu generieren, Kommunikationswege zu verkürzen und Managementprozesse zu entschlacken. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit die Digitalisierung die unterschiedlichsten Branchen erfasst – auch solche, die auf den ersten Blick wenig technologische Assoziationen wecken wie etwa die soziale Dienstleistungsbranche, zu der die (Alten-)Pflege zählt. Die aktuelle Datenlage zeigt diesbezüglich zumindest einen deutlichen Status Quo. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie stellt beispielsweise in seinem Monitoring-Report Wirtschaft DIGITAL (Weber 2018) dar, dass die gesamte Dienstleistungsbranche 2018 einen Digitalisierungsindex von 55 von 100 möglichen Punkten aufwies und somit 10 Punkte über denen der Industrie lag. Schlüsselt man allerdings den Digitalisierungsgrad der einzelnen Branchen auf, so lagen beispielsweise wissensintensive Dienstleister wie Unternehmensberatungen, Marktforschungsinstitute oder Medienindustrie mit 63 Punkten über dem Durchschnitt aller Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft, während das Gesundheitswesen klar das Schlusslicht mit 37 Punkten bildete. Stellt sich die Branche bewusst gegen den digitalen Trend und will nicht oder kann sie aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Primäraufgaben (z. B. Bewohnerpflege in einer Pflegeeinrichtung oder Therapie von dementen Menschen) nicht, da ein Großteil der Tätigkeiten (noch) eine zwischenmenschliche
Interaktion verlangt?
Digitalisierungschancen in der Pflege
Maßgeblich für Entscheidungen für oder gegen die Implementierung neuer Technologien sind die damit zu erreichenden Ziele. Beispielsweise könnten Kostensenkungen, Zeitersparnis, Flexibilität, Qualitätssteigerung, Gesundheitsförderung, Reputationssteigerung, erhöhte Reichweite oder Nachhaltigkeit handlungsleitende Motive sein.
Am Beispiel der stationären Altenpflege sind diverse Potenziale erkennbar. Für eine bessere Durchdringung der Digitalisierungsoptionen dieser Einrichtungen wird zwischen einer strategischen und operativen Ebene unterschieden. Die strategische Ebene umfasst vor allem Verwaltungstätigkeiten und Managementprozesse und ähnelt in Funktionsweise und Aufbau stark anderen Institutionen (z. B. Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken), so dass diese global von den neuen Technologien profitieren können. Einige Digitalisierungsbeispiele, von denen auch, aber nicht ausschließlich die stationäre Altenpflege profitieren könnte, finden sich in ➥ Tabelle 1. Allein im Bereich der Personalakquise wird deutlich, dass es viel mehr digitale Möglichkeiten gibt, Interessenten zu erreichen als lediglich über Zeitungsinserate oder Messestände. Gleichzeitig lässt sich der Bewerbungsprozess niederschwelliger gestalten im Vergleich zu den früher umfangreichen postalisch verschickten Bewerbungsmappen. Dies allein könnten effiziente technologiegestützte Wege sein, die eigene Reichweite zu erhöhen, Prozesse zu vereinfachen und zeitnah der oftmals starken Fluktuation dieser Branche entgegenzuwirken.
Die zweite, die operative Ebene, ist die womöglich spannendere, denn die pflegerische Kernaufgabe findet in den jeweiligen Wohnbereichen statt, in denen die Pflegebedürftigen kurz- oder langfristig untergebracht sind und eine umfassende Betreuung erhalten sollen. Hier treten größere Unterschiede in möglichen Einsatzszenarien neuer Technologien in der (sozialen) Dienstleistungsbranche auf im Vergleich zu den doch recht ähnlichen Strukturen und damit einhergehenden Möglichkeiten auf strategischer Ebene. Wie bereits erörtert, sind die Betreuungszustände in der (Alten-)Pflege zum Teil prekär und das Personal stark belastet, so dass mögliche Beweggründe für digitale
Unterstützungen eine Qualitätssteigerung oder ein Qualitätserhalt sowie die Entlastung der Beschäftigten sein könnten. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die neuen Technologien und die fortschreitende Digitalisierung tatsächlich eine zusätzliche Möglichkeit bieten, das Personal zu entlasten sowie die Qualität der Pflege zu erhalten. Speziell für die stationäre Altenpflege gibt es ein breites Spektrum an Unterstützungsoptionen – von Software bis hin zu Servicerobotern –, das in ➥ Tabelle 2 beispielhaft skizziert ist. Vor allem im Bereich der Dokumentation gibt es umfassende modulare Softwarelösungen, die Elemente wie Bewohnerdaten, Pflege, Maßnahmenplanung oder Wundmanagement umfassen und in einem Tool integrieren.
Digitalisierungshürden in der Pflege
Die stationäre Altenpflege zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass sie als sozialer Dienstleistungssektor eng mit seinem vulnerablen Klientel verknüpft ist, das in der Regel über Monate und Jahre hinweg im Wohnbereich ein neues Zuhause mit entsprechender Betreuung und Versorgung findet. Zum anderen sind die Wohnbereichsbeschäftigten wie etwa Pflegefach- und Hilfskräfte, Fachkräfte für Ergotherapie und Hauswirtschaft sowie Alltagsbegleiterinnen und -begleiter primär in sozialen, therapeutischen, versorgerischen und medizinischen Belangen kompetent. Das zwischenmenschliche Miteinander scheint zudem ein maßgebliches Motiv bei der Berufswahl zu sein. Gleichzeitig bedeutet dies, dass unter Umständen wenig technische Kenntnisse oder Kompetenzen bei den Beschäftigten vorhanden sind, wenn diese nicht im privaten Bereich erworben wurden. Umso größer ist dadurch das Risiko, dass neue Technologien als Bedrohung oder Belastung und weniger als Chance und Entlastung angesehen werden. Nur weil etwas technisch möglich und umsetzbar ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die Einführung neuer Technologien auch gewünscht wird.
Entscheidend für den Einsatz und Erfolg ist vor allem die Akzeptanz der jeweiligen Technologie vonseiten derer, die sie zukünftig anwenden sollen – wie Beschäftigte sowie Bewohnerinnen und Bewohner – und die Bereitschaft, sich mit diesem eher professionsfernem Bereich auseinander zu setzen. Oft äußern Beschäftigte beispielsweise Bedenken, dass sie durch die fortschreitenden Technologien zusätzliche Anforderungen im Arbeitsalltag bewältigen müssen oder deutlich weniger Zeit mit den Pflegebedürftigen verbringen können. Möglicherweise sehen sie auch den eigenen Arbeitsplatz bedroht, da die neuen Technologien oder vielleicht sogar der Einsatz von Robotern auch Personaleinsparungen zur Folge haben könnten.
Die Wissenschaft beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik, auch wenn die damalige Technik noch ganz andere Formen und Dimensionen hatte als die heutige – zu dieser Zeit gab es zwar bereits Computer, aber noch kein Internet. Relevante Faktoren werden unter anderem in dem Technologieakzeptanzmodell von Davis aus dem Jahr 1989 aufgeführt. Obwohl es stetig erweitert wurde, zeichnet sich von Beginn an ab, dass neben externen Faktoren auch der wahrgenommene Nutzen sowie die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit die Einstellung gegenüber der Technologie formt und darüber entscheidet, ob deren (Intention zur) Nutzung erfolgt (➥ Abb. 1).
Digitalisierungs-Status Quo in der Pflege
Betrachtet man nun die Versorgungsengpässe in der (Alten-)Pflegebranche und zieht die diversen unterstützenden Digitalisierungsoptionen hinzu, ist es interessant, sich den aktuellen Digitalisierungsgrad einer realen Einrichtung anzuschauen. Die Ergebnisse einer Arbeitsanalyse, die in einer eigenen, kürzlich in Ausschnitten publizierten Fallstudie in einer stationären Altenpflegeeinrichtung dargestellt wurden (Bielefeldt 2020), erlauben einen exemplarischen Einblick in einen sächsischen Wohnbereich und werden im Folgenden kurz umrissen.
In der Analyse wurden zum einen alle zum Erhebungszeitraum im Einsatz befindlichen informationstechnologischen Geräte aufgelistet, zu denen eine gewisse Standardausstattung (Telefon, Computer, Multifunktionsdrucker etc.) gehörte, darüber hinaus wurden jedoch auch fortschrittlichere Systeme erfasst wie etwa eine kürzlich eingeführte Pflegedokumentationssoftware sowie ein partiell im Einsatz befindlicher Serviceroboter (als Abgrenzung zu Industrierobotern) zu Therapiezwecken für an Demenz erkrankte Bewohnerinnen und Bewohnern (➥ Abb. 2).
Zum anderen wurde bei den Beschäftigten erfragt, welche weiteren technologischen Unterstützungspotenziale sie sich vorstellen könnten. Hierbei war spürbar, dass die Wohnbereichsbeschäftigten solchen Möglichkeiten offen gegenüber standen: Die Nennungen reichten von allgemeiner technischer Unterstützung (z.B. ein weiteres mobiles Telefon) über informationstechnologische Erweiterungen (z.B. erleichterte Dokumentation via Sprachbefehl) bis hin zu robotischen Entlastungen (z.B. Nachtwächterfunktion des Roboters für unbesetzte Wohnbereiche in der Nachtschicht).
Unabhängig von den möglichen Einsatzgebieten und dem damit einhergehenden Nutzen aus Beschäftigtensicht wurden auch Bereiche genannt, die möglichst unberührt von der Digitalisierung und in kompetenten Menschenhänden bleiben sollen. Dies umfasst beispielsweise die unterstützende Essbegleitung, Körperwäsche der Pflegebedürftigen oder die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen Bewohnern und Beschäftigten.
Praktische Digitalisierungsempfehlungen für die Pflege
Welche praktischen Empfehlungen lassen sich demnach ableiten? Bei der Implementierung neuer Technologien im Rahmen einer fortschreitenden Digitalisierung allgemein, aber vor allem im Kontext der stationären Altenpflege mit ihrem sensiblen Klientel und ihrem stark geforderten Beschäftigten ist es umso wichtiger, diese Entscheidung sorgfältig zu treffen und den Implementierungsprozess engmaschig zu begleiten. Denkbar wäre, ähnlich wie in der oben zitierten Fallstudie, eine umfangreiche Arbeitsanalyse oder eine (psychische) Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, die die Tätigkeiten, Belastungen und Beanspruchungen der Beschäftigten erfassen und zielgerichtete Entscheidungen für oder gegen eine neue Technologie aufzeigen kann. Auf diese Weise kann deren wahrgenommener Nutzen erhöht werden. Zudem empfiehlt sich zwingend ein interner Austausch mit den potenziell betroffenen Beschäftigten. Auf diese partizipative Weise können aufkommende Widerstände des Personals ernst genommen und die Beschäftigten mit in die Umgestaltung ihres Arbeitslebens einbezogen werden. Eine Begleitung dieses Prozesses durch Externe (z. B. aus der Arbeitswissenschaft und -psychologie) ist ebenfalls denkbar.
Generell könnte sich die Gesellschaft noch stärker an dem Megatrend der Digitalisierung orientieren und viel umfassendere Anpassungen vornehmen – nicht nur auf Unternehmens-, sondern womöglich auch auf Aus- und Weiterbildungsebene. Was, wenn Technologien in Ausbildung und Studium der Fachkräfte zur Normalität werden – so wie Statistik und kognitive Neurowissenschaft genauso zur Psychologie gehören wie die Gesprächsführung, Diagnostik und Beratung? Umso gestärkter und kompetenter könnten die Menschen mit der Technik kooperieren und Barrieren abbauen. Unter Umständen verlangt dies eine Redefinition des Berufsbildes einer Pflegekraft. Darüber hinaus liegen gewisse Verantwortlichkeiten auch beim Gesetzgeber, der die Grundlagen – wie etwa Haftungsfragen, Datenschutzaspekte, Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten – schaffen muss. Auch in Herstellung und Entwicklung zeigen sich Bemühungen, neue Technologien möglichst an den Bedürfnissen potenzieller Nutzerinnen und Nutzer zu orientieren und gemeinsam mit ihnen an neuen Produkten zu arbeiten, so dass die Benutzerfreundlichkeit gesteigert werden kann. Bei solchen womöglich komplexen Veränderungen des Berufsalltags, wie es zum Beispiel durch den Einsatz eines Kollegen Roboter in der stationären Altenpflege der Fall wäre, hat sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bewährt, wie sie auch in der Forschung häufig zum Einsatz kommt. Das Ausschöpfen und Vereinen der Kompetenzen von Expertinnen und Experten etwa aus Informatik, Psychologie, Betriebswirtschaft und von unternehmensinternen Fachkräften kann den Erfolg einer fortschreitenden Digitalisierung eines Unternehmens und der damit einhergehenden Tätigkeiten maßgeblich beeinflussen und eine gelungene Mensch-Maschine-Interaktion fördern.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.