Zielsetzung
Die systematische Planung menschlicher Arbeit spielt eine zentrale Rolle in der Industrie. Klassische Planungsmethoden fokussieren dabei in der Regel auf zeitliche oder ergonomische Aspekte und optimieren demnach nur einen Aspekt. Eine kombinierte Betrachtung hingegen bietet das Potenzial, Arbeitsabläufe gezielt sowohl produktiv als auch gesund auszulegen.
Mit dem Prozessbausteinsystem MTM-HWD® (Methods-Time Measurement – Human Work Design, kurz: HWD) steht eine Analysemethode zur Verfügung, die genau diese Lücke schließt, indem sie die ergonomische Bewertung menschlicher Arbeit in die bewährte MTM-Systematik zur Zeitbestimmung einbindet (Finsterbusch 2016). Sie rückt damit – wie es der Name schon verrät – den Menschen stärker in den Mittelpunkt der Planung und der Gestaltung von Arbeitsprozessen. Insbesondere in Zeiten des demografischen Wandels und den damit einhergehenden Herausforderungen ist ein solches Verfahren besonders relevant (Kuhlang 2018).
Entwickelt wurde HWD von der MTM ASSOCIATION e.V. (zuvor: Deutsche MTM-Vereinigung e.V.) in Zusammenarbeit mit Partnern aus Industrie und Forschung. Dazu gehören:
Methodische Grundlage der Entwicklungen waren dabei insbesondere das MTM-Prozessbausteinsystem MTM-1 (Bokranz u. Landau 2006; MTM ASSOCIATION e.V. 2019) sowie das ergonomische Bewertungsverfahren EAWS (Schaub et al. 2012). Neben diesen beiden Verfahren wurden auch Aspekte der ergonomischen Verfahren APSA (Arbeitsplatz-Strukturanalyse) und EAB (Ergonomische Arbeitssystem-Beurteilung) berücksichtigt (Finsterbusch 2014).
Anwendung von MTM-HWD
Die richtige Anwendung von HWD ermöglicht eine umfassende Bewertung und Gestaltung menschlicher Arbeit. Im Folgenden wird an einem praktischen Beispiel erläutert, wie diese Anwendung erfolgt (Kuhlang 2018, 2019).
Beispieltätigkeit
Zur Erläuterung des Verfahrens wird ein Arbeitsplatz betrachtet, an dem Pumpen montiert werden (➥ Abb. 1) (Kuhlang 2018, 2019). Das Augenmerk liegt dabei insbesondere auf dem ersten Arbeitsschritt, dem Aufnehmen und Platzieren des Pumpengehäuses. Für diesen Schritt starten die Beschäftigten in der dargestellten Position, drehen sich, gehen zum Materialwagen und nehmen dort ein Gehäuse auf. Anschließend wird dieses zur Montagevorrichtung auf dem Arbeitstisch gebracht.
Aktionen, Objekte und Extremität
Erster Schritt in der Beschreibung der Arbeitsprozesse mit HWD ist die Erfassung der durchgeführten Aktionen (➥ Tabelle 1). Die am häufigsten auftretenden Aktionen bei manuellen Tätigkeiten sind das Aufnehmen (OBTAIN) und das Platzieren (DEPOSIT) von Gegenständen. Andere mögliche Aktionen sind das visuelle Prüfen (CHECK) oder das Trennen (RETRACT) von Objekten. Die Objekte werden dabei unterschieden in Teile, Werkzeuge, Stellteile oder Transportmittel. Zur vollständigen Beschreibung der Aktionen wird zudem noch ermittelt, mit welcher Extremität die Aktion durchgeführt wird. Eine Extremität ist dabei aktiv, wenn sie die Aktion durchführt, und passiv, wenn sie dafür nicht verwendet wird.
Zur vollständigen Beschreibung der Arbeitsabläufe müssen zudem diverse Einflussgrößen zu den einzelnen Aktionen ermittelt werden, damit die zeitliche und ergonomische Bewertung stattfinden kann. Die Bewertung der Einflussgrößen erfolgt in den Bereichen:
Diese auf Körperregionen bezogene Einteilung sowie die Darstellung der einzelnen Ausprägungen mit Piktogrammen unterstützen die Anwendenden bei der unkomplizierten und systematischen Ausführung der HWD-Analyse.
Einflussgrößen der unteren Extremitäten
Die Einflussgrößen der unteren Extremitäten (➥ Tabelle 2) umfassen die Größen Weg, Grundstellung, Ausführungsbedingungen und Beinhaltung.
Mit dem Weg wird die während einer Aktion zurückgelegte Strecke erfasst. HWD unterscheidet hierfür die Fortbewegungsarten Gehen, Stufen steigen, Klettern und Kriechen. Die Ausführungsbedingungen geben an, ob ein erhöhter Kontrollaufwand durch Hindernisse auf dem Boden oder durch rutschige Oberflächen erforderlich ist. Die Grundstellung und die Beinhaltung sind insbesondere für die ergonomische Bewertung des Prozesses von Relevanz. Die Grundstellung beschreibt, ob die Person steht, sitzt, hockt oder kniet, und die Beinhaltung gibt an, ob die Beine in der jeweiligen Grundstellung ausgestreckt oder angewinkelt sind.
Einflussgrößen des Rumpfes und von Kopf/Nacken
Die Einflussgrößen des Rumpfes (➥ Tabelle 3) bestehen aus Rumpfbeugung, -drehung und –neigung, die von Kopf und Nacken aus der Kopfhaltung und dem Blickverschieben, die hier nicht dargestellt sind.
Die Erfassung der Rumpfhaltung erfolgt unabhängig von der Erfassung der unteren Extremitäten. So wird beispielsweise eine Rumpfverdrehung erfasst, egal ob die Beschäftigten stehen oder sitzen. Die Beugung beschreibt hier die Auslenkung des Rumpfes nach vorne oder hinten und die Neigung die Auslenkung zur Seite. Die Rumpfdrehung gibt die Verdrehung der Schulter in Relation zu den Füßen an.
Analog zur Rumpfhaltung beschreibt die Kopfhaltung, ob der Kopf ausgelenkt beziehungsweise verdreht ist. Die Größe Blickverschieben gibt an, ob eine zeitbestimmende Bewegung der Augen notwendig ist.
Einflussgrößen der oberen Extremitäten
Die oberen Extremitäten, also die Arme und Hände, werden bei Anwendung von HWD am detailliertesten erfasst und umfassen somit die meisten Einflussgrößen. Ursache dafür ist die Tatsache, dass die Hände bei den meisten manuellen Tätigkeiten zeitbestimmend sind. Zudem haben sie erheblichen Einfluss auf die ergonomische Bewertung bei Methoden wie EAWS.
Die Einflussgrößen zur Beschreibung der Haltung der oberen Extremitäten (➥ Tabelle 4) umfassen dabei die Oberarmhaltung, die Handposition, die Armstreckung und die Handhaltung. Die Größe Gewicht/Kraft gehört ebenfalls zu den Einflussgrößen der oberen Extremitäten.
Die Größe Oberarmhaltung beschreibt die Auslenkung des Oberarms in Relation zum Oberkörper. Mit der Handposition wird anschließend die Höhe der Hand in Bezug zur Schulter angegeben, das heißt, ob sie sich unter, auf oder über Schulterhöhe befindet. Die Entfernung der Hand zum Schultergelenk wird durch die Armstreckung abgebildet und die Auslenkung beziehungsweise Verdrehung zwischen Hand und Unterarm durch die Handhaltung. Die Einflussgröße Gewicht/Kraft kann sowohl das Gewicht eines zu tragenden Objekts erfassen als auch die Kraft, wenn das Objekt beispielsweise verschoben wird.
Neben den Haltungen und der Kraft müssen der zurückgelegte Weg und der benötigte Kontrollaufwand für die oberen Extremitäten (➥ Tabelle 5) erfasst werden. Der Kontrollaufwand wird durch die Größen Bereitstellung/Platziergenauigkeit + Einbaulage, Fügebedingungen, Greifbewegung + Greifart beschrieben.
Mit dem Entfernungsbereich wird der durch die Hand zurückgelegte Weg erfasst. Die Einflussgrößen Bereitstellung/Platziergenauigkeit + Einbaulage sowie die Fügebedingungen geben wieder, wie genau die einzelnen Bewegungen der Beschäftigten erfolgen müssen beziehungsweise wie umsichtig sie dabei agieren müssen. Mit der Greifbewegung + Greifart wird abschließend dargestellt, wie die zu handhabenden Objekte unter Kontrolle zu bringen beziehungsweise zu halten sind.
Übersicht der Einflussgrößen
In Tabelle 6 sind die zu erfassenden Einflussgrößen zusammengefasst und nach Art der Einflussgröße kategorisiert (Benter u. Kuhlang 2019). Die hier verwendeten Kategorien sind Genauigkeiten, Entfernungen, Haltungen und Kräfte.
Unter Genauigkeiten sind die Einflussgrößen zusammengefasst, die vorrangig den notwendigen Kontrollaufwand bei Durchführung der Arbeitsaufgabe beschreiben. Sie sind damit insbesondere für die zeitliche Bewertung des Prozesses relevant, da ein erhöhter Kontrollaufwand einen höheren Zeitbedarf bedingt.
Die Entfernungen sind ebenfalls für die zeitliche Bewertung relevant, da längere Wege mehr Zeit in Anspruch nehmen. Sie spielen jedoch auch bei der ergonomischen Auswertung eine wichtige Rolle. So können Wege einerseits als Ausgleich zu statischen Haltungen dienen, sie können andererseits jedoch auch bei zu langen Bewegungen eine erhöhte Beanspruchung für Beschäftigte darstellen.
Die Haltungen, die die Stellung des Körpers beschreiben, und die aufzubringenden Kräfte sind vorrangig für die ergonomische Bewertung des Prozesses wichtig. Sie werden deshalb bei vielen bewährten Methoden als zu erfassende Größen verwendet.
Durch Einbindung all dieser unterschiedlichen Größen in eine Methode ist HWD in der Lage, den Prozess sowohl zeitlich als auch ergonomisch zu bewerten.
Ergebnisse der HWD-Anwendung und zukünftige Entwicklung
Mit HWD steht ein Instrument zur humanorientierten Gestaltung menschlicher Arbeit zur Verfügung, das mehrere Vorteile bietet. Es kann zum einen manuelle Arbeitsprozesse unter Berücksichtigung der weltweit standardisierten MTM-Normleistung zeitlich bewerten und so die Gestaltung produktiver Abläufe unterstützen. Es kann zum anderen die physischen Belastungen am Arbeitsplatz mit dem Ergonomiebewertungsverfahren EAWS bewerten.
Ein weiterer Vorteil des Verfahrens ist die Verwendung von Piktogrammen zur Darstellung der Einflussgrößen im Gegensatz zu den MTM-üblichen Kodierungen. Dadurch wird die Handhabung des Verfahrens erleichtert und die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Beschäftigten, Führungskräften, Ergonomiefachkräften und Industrial Engineers bei der Gestaltung von Arbeitsabläufen unterstützt. Damit bietet es die Möglichkeit, ein gemeinsames Verständnis der Arbeitsabläufe zu entwickeln. In Verbindung mit der integrierten Bewertung von Zeit und Ergonomie vermeidet es so die Bildung von lokalen Optima bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen zu Lasten anderer Aspekte. Es ermöglicht stattdessen die Gestaltung gesunder und produktiver Arbeit (Finsterbusch 2014).
Das Prozessbausteinsystem MTM-HWD bildet zudem eine geeignete Grundlage für die Digitalisierung der Arbeit des Industrial Engineerings mit modernen Software-Werkzeugen wie Humansimulation, Virtual Reality oder Motion Capture. Bereits bei der Entwicklung des Systems wurden die Anforderungen dieser Tools berücksichtigt und umgesetzt (Kuhlang 2018) und kann so den Einsatz solcher Software-Tools hervorragend ergänzen.
Ein Beispiel dafür ist das Softwaretool ema Work Designer der imk automotive GmbH, das in der Lage ist, aus einer Humansimulation eine HWD-Prozessbeschreibung abzuleiten (Leidholdt et al. 2016). In einem Verbundprojekt der MTM ASSOCIATION e.V. und imk wurde diese Lösung validiert und optimiert (Benter u. Kuhlang 2019). Zu einem simulierten Prozess können ema Work Designer nun die generierten Daten an eine geeignete Zeitwirtschaftssoftware überliefern, die daraus wiederum eine regelkonforme HWD-Analyse ableitet. Damit stehen für den simulierten Prozess eine zeitliche und eine ergonomische Bewertung zur Verfügung.
Interessenkonflikt: Die Autoren sind bei der MTM ASSOCIATION e. V. beschäftigt.
Literatur
Benter M, Kuhlang P: Kategorisierung der MTM-HWD®-Einflussgrößen zur Bewertung der Ableitbarkeit aus digitalen Bewegungsdaten. In: GfA, Tagungsband der Herbstkonferenz 2019.
Bokranz R, Landau K: Produktivitätsmanagement von Arbeitssystemen. Stuttgart, 2006.
Finsterbusch T: Entwicklung einer Methodik zur Bildung von Bausteinsystemen für die Gestaltung menschlicher Arbeit. Dresden, 2016.
Finsterbusch T: Human Work Design – Ganzheitliche Arbeitsgestaltung mit MTM. In: GfA Frühjahrskonferenz, Karlsruhe, 2014.
Kuhlang P: Positionen der Deutschen MTM-Vereinigung e.V. zu Assistenzsystemen und zur Verarbeitung von digitalen Bewegungsdaten. MTM-Schriftenreihe Industrial Engineering 12, 2019.
Kuhlang P: Produktive und ergonomiegerechte Arbeit – Von Grundsätzlichem zur Prozesssprache MTM über die Ergonomiebewertung zu Human Work Design (MTM-HWD®). ifaa, Leistung und Entgelt 2018; 2: 6–46.
Leidholdt W, Fritzsche L, Bauer S: Editor menschlicher Arbeit (ema). In: Homo Sapiens Digitalis – Virtuelle Ergonomie und digitale Menschmodelle. Berlin 2016.
MTM ASSOCIATION e.V.: Lehrgangsunterlage – MTM-1. Hamburg: MTM ASSOCIATION e.V., 2019.
Schaub K, Caragnano G, Britzke B, Bruder R: The European Assembly Worksheet. Theoretical Issues in Ergonomics Science 2012; 14: 616–639.
Kernaussagen
Koautor
An der Erstellung des Beitrags beteiligt war ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Kuhlang, MTM-Institut, Zeuthen.
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