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Erhebung ergonomischer Best Practices in industriellen Arbeitsprozessen mittels Internet of Things und Mixed Reality

ErgoBest

Motivation

Ergonomische Fehlhaltungen tragen in vielen Berufen zu einem erhöhten Krankenstand und einem gesundheitsbedingten frühen Ausscheiden aus der Arbeitswelt bei. Trotz der steigenden Verbreitung geistiger Tätigkeiten in der Arbeitswelt gehören nach wie vor ermüdende oder schmerzhafte Körperhaltungen, schwere Lasten und sich wiederholende monotone Hand- oder Armbewegungen zu den am häufigsten genannten Gesundheitsrisiken in Europa, denen sich Beschäftigte ausgesetzt sehen (Eurofound 2012). Muskel-Skelett-Erkrankungen, insbesondere Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule in Folge von Heben und Tragen von Lasten, zählen daher zu den oft diagnostizierten Ursachen für berufsbedingte Erkrankungen. Zusammen mit Erkrankungen des Bindegewebes machten sie vor der COVID-19-Pandemie 23,9 % aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland aus und verursachen Produktionsausfallkosten und ausgefallene Bruttowertschöpfung in Höhe von 33,2 Milliarden Euro pro Jahr (BAuA 2020). Verbreitete Ansätze zur besseren Gestaltung von Arbeitsplätzen wie das Ergonomic Assessment Worksheet (EAWS) scheitern häufig an der betrieblichen Realität mit einschränkenden Charakteristika von Arbeitsplätzen (wie z. B. Platzmangel oder unhandliche Dimensionen von Betriebsmitteln und Logistikbehältern) und den eigenen standardisierten Vorgaben, die je nach Situation und körperlichen Voraussetzungen nicht für alle Beschäftigten praktikabel sind.

Projektziele

Ziel des Projekts ErgoBest ist die Entwicklung eines ganzheitlichen, modularen und flexibel einzusetzenden Systems, das den Beschäftigten an industriellen Produktion- und Montagearbeitsplätzen situationsgerechte ergonomische Assistenz sowohl im Alltagsbetrieb als auch zu Trainingszwecken bietet. Dadurch sollen andauernde körperliche Fehlhaltungen sowohl präventiv als auch reaktiv vermieden und so die Gesundheit der Mitarbeitenden gefördert werden. Perspektivisch soll dadurch eine Reduzierung von Fehltagen oder Fällen frühzeitiger Arbeitsunfähigkeit erreicht werden. Aber auch Arbeitgeber können insofern profitieren, dass das ErgoBest-System einen Einblick in die tatsächliche Prozessausführung als Ausgangspunkt für eine Verbesserung der Arbeitsplatzgestaltung bietet. Im Rahmen des Projekts liegt der Fokus jedoch zunächst auf direkt mess- und validierbaren Zielen. Diese beinhalten in erster Linie die Reduktion der Anzahl und Dauer von Belastungssituationen und die Aufdeckung ergonomisch günstiger Prozessausführungsvarianten.

Neben der reinen Analyse der Ergonomie auf Basis von inertialen Messeinheiten (räumliche Kombination von mehreren sogenannten Inertialsensoren wie Beschleunigungssensoren oder Drehratensensoren) sind vor allem eine zuverlässige Prozesserkennung und die Gestaltung des Feedbacksystems von zentraler Bedeutung. Mit modernen Methoden der Process Discovery und des Deep Ensemble Learnings sollen Prozesse identifiziert und ergonomische Best Practices abgeleitet werden. Da das gesamte Projekt einen menschzentrierten Entwicklungsansatz verfolgt, fließen aktuelle Erkenntnisse zur menschlichen Informationsverarbeitung in die Gestaltung des Feedbacks durch das System und auch in die gesamte Interaktion der nutzenden Person mit dem System ein. Abgerundet wird das System durch einen starken Fokus auf den Schutz der persönlichen Daten der Anwenderinnen und Anwender. Dazu wird ein Privacy-by-Design-Ansatz verfolgt, der auf Datenvermeidung und Datensparsamkeit ausgelegt ist.

Anwendungsszenarien

Für eine realitätsnahe und fokussierte Entwicklung des Systems wurden bereits früh im Projektverlauf und in enger Abstimmung mit einem Industriepartner konkrete Anwendungsszenarien (Use Cases) festgelegt und detailliert ausgearbeitet. Der Fokus bei der Auswahl der Arbeitsplätze lag zunächst auf möglichst repetitiven Aufgaben, die aufgrund ihrer Gestaltung verschiedene extreme Körperhaltungen (vor allem Beugung, Neigung und Rotation des Oberkörpers) begünstigen. Während beispielsweise bei einem Arbeitsplatz Bauteile bei niedriger Taktzeit von links oder rechts zur Mitte geführt werden müssen, müssen bei einem anderen Arbeitsplatz diese Bauteile nach einer Sichtprüfung in unterschiedlich große Kisten gepackt werden.

Aktuell werden diese Use Cases zunächst modellhaft im Labor nachgestellt (➥ Abb. 1) und sollen so die Entwicklung des Systems durch ein iteratives Vorgehen (Design Test Repeat) und das Erzeugen vieler realitätsnaher Datensätze unterstützen. Bereits dieser Prozess wird von verschiedenen weiteren etablierten Methoden begleitet. Neben klassischen Fragebogenverfahren (z. B. NASA-TLX) sind dafür vor allem das Eye Tracking und das dedizierte Motion Capturing hervorzuheben, die zum einen der technischen Evaluation dienen, aber auch das Verständnis über die Interaktion der Nutzenden mit dem System verbessern. Dieses Verständnis liefert wertvollen Input für die Gestaltung der Nutzerschnittstellen und hat somit einen großen Einfluss auf die spätere Akzeptanz des Systems durch seine Nutzerinnen und Nutzer.

Zur finalen Evaluation soll sich das zu entwickelnde System schließlich in der entsprechenden realen Umgebung beweisen. Solche Feldtests unterliegen vor allem hinsichtlich des Eye Trackings oft verschiedenen Restriktionen durch den beteiligten Indus­triepartner. Daher wird der Fokus bei diesen abschließenden Versuchen vor allem auf dem Nutzen und der Akzeptanz des Systems im realen Umfeld liegen.

Sensornetzwerk

Das sich in Entwicklung befindliche Sensornetzwerk soll in erster Linie aus einem direkt von der nutzenden Person getragenen Wire­less Body Area Network (WBAN) zusammengefassten Sensoren und Wearables zur Bewegungserkennung bestehen. Da bestehende Motion-Capturing-Systeme mit inertialen Messeinheiten oft eher sperrig, energieintensiv und nur schlecht von Laien bedienbar sind, soll das ErgoBest-System möglichst schlank und alltagstauglich realisiert werden. Möglich wird dies vor allem durch einen auf das Notwendigste reduzierten Funktionsumfang, der speziell auf die spezifischen Anforderungen von Ergonomieanalysen an Indu­striearbeitsplätzen abgestimmt ist. Dazu wird vor allem auf kleine inertiale Messeinheiten zurückgegriffen, die sich im industriellen Umfeld (z. B. Störpotenzial durch magnetische Felder) als zuverlässig erweisen. Von der Verwendung eines fest installierten optischen Systems zur Bewegungserfassung wird aufgrund schlechter Mobilität und Fehleranfälligkeit (z. B. durch Sichteinschränkungen der Kameras) abgesehen.

Das Sensornetzwerk kann zur Unterstützung der auf Machine-Learning-Verfahren basierenden Prozesserkennung zusätzlich um Sensoren erweitert werden, die direkt im Arbeitsplatz integriert sind. Zur Umsetzung dieser flexiblen und offenen Systemarchitektur wird ein IoT (Internet of Things)-Gateway entwickelt, das zum einen Datenschutz und Anonymisierung garantiert und zum anderen eine Plattform zum standardisierten Datenaustausch der einzelnen Systembestandteile wie Ergonomiedatenanalyse oder Arbeitsprozessanalyse bietet.

Feedbackmechanismen

Der innerhalb des IoT-Gateways produzierte Output in Form von Handlungsempfehlungen oder Hinweisen auf kritische Körperhaltungen wird an das Smart Gateway weitergeleitet, das schließlich das Feedback für die nutzende Person generiert. Dieses Feedback selbst muss subtil und simpel gestaltet werden, um die Ablenkungswirkung möglichst gering zu halten. Zusätzlich setzt es auf Hands-free-Mechanismen um Unterbrechungen der eigentlichen Arbeitsabläufe zu vermeiden.

Für die Vermittlung des Feedbacks an die nutzende Person sind zwei voneinander unabhängige Schnittstellen vorgesehen: ein Hand-Held-Display (HHD), das am Handgelenk getragen wird, und ein Head-Mounted-Display (HMD) in Form einer Augmented-Reality-Brille (bei ErgoBest eine HoloLens). Während sich das HHD, das Benachrichtigungen an die nutzende Person vor allem in Form kurzer Texte, kleiner Bilder und Vibrationen übermittelt, für den alltäglichen Einsatz eignet, ist das HMD vor allem für Trainingszwecke zum Beispiel im Rahmen von Ergonomiefortbildungen interessant. Daher unterscheidet ErgoBest hier zwischen einem Basissystem (nur HHD) und einem erweiterten System (HHD und HMD).

Allerdings bietet das HMD zusätzlich den Vorteil, selbst Input für das IoT-Gateway produzieren zu können. Da die Augmented-Reality-Brille über eine nach außen gerichtete Kamera und ausreichend Rechenleistung verfügt, kann sie selbstständig Objekte und Szenen erkennen und klassifizieren, ohne dass Bilder die eigene Hardware verlassen müssen. Die Deep-Learning-Instanz zur Prozessanalyse kann somit ohne Zugriff auf eventuell sensibles Bildmaterial bei Zweideutigkeiten in den sonstigen Sensordaten auf diese Object- und Scenery Recoqnition zurückgreifen, um tiefere Einblicke in das aktuelle Geschehen und damit in die Bewegungen und Handlungen der nutzenden Person zu erlangen. Auf Basis dieses tiefen Prozessverständnisses können die entsprechenden Handlungsempfehlungen stets weiter individualisiert und angepasst werden.

Prozesserkennung und -empfehlungen

Wie bereits erwähnt und anhand des Namens ErgoBest erkennbar, liegt ein Kernelement in der Aufdeckung ergonomischer Best Practices. Unter Berücksichtigung der erhobenen Bewegungsdaten und Ergonomieanalyse werden Ausführungsmöglichkeiten der zugrunde liegenden Arbeitsprozesse ausgewertet und entsprechende Handlungsoptionen der nutzenden Person vorgeschlagen. Grundlage hierfür ist die prozessbasierte Aktivitätserkennung, um vor allem die entsprechenden Rückenhaltungen zuverlässig Schritten im Arbeitsprozess zuzuordnen. Der Grundgedanke eines Prozessmodells hilft dabei, die entsprechenden Haltungsmuster in der Erkennung so einzugrenzen, dass die richtigen Prozessschritte erkannt werden. Auf Basis aggregierter historischer Daten, die im Einklang mit dem Datenschutzkonzept aufgenommen wurden, werden mögliche Prozessverläufe (Process Outcomes) in Hinblick auf die gesamte ergonomische Last prognostiziert. Die so generierten Empfehlungen werden der nutzenden Person dann mittels entsprechender Symbolik, die anhand der in Anlehnung an die menschliche Informationsverarbeitung aufgestellten Gestaltungsempfehlungen entwickelt wurde, auf dem HMD visualisiert.

Datenschutz

Im Spannungsfeld zwischen der Datensparsamkeit zum Schutz der individuellen Beschäftigten und Nutzenden des ErgoBest-Systems einerseits und des hohen Datenbedarfs einer KI-Anwendung wie der Machine-Learning-basierten Prozesserkennung andererseits, fokussiert sich der Datenschutz bei ErgoBest auf Datenreduktion in jeder Schnittstelle des Systems. Dadurch sollen vor allem mögliche Angriffsszenarien wie die indirekte Leistungsüberwachung oder eine Ausfallvorhersage einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verhindert werden.

Auf technischer Ebene wird dies vor allem mittels Limitierung der Sensordatenspeicherung auf die jeweils aktuelle Verwendungssession erreicht. Das System soll von Grund auf ohne langfristige individuelle Datenhaltung auskommen. Darüber hinaus liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der Verschlüsselung sämtlicher Übertragungen von Sensor- und Analysedaten.

Im allgemeineren Anwendungsszenario müssen allerdings zur automatisierten Prozesserkennung gezwungenermaßen Daten aggregiert werden. Das Datenschutzziel ist hier die formelle Betrachtung des Informationsdeltas in jeder Schnittstelle, das durch die Hinzunahme oder Herausnahme eines Beschäftigtendatensatzes in der jeweiligen Komponente Rückschlüsse auf sensible Daten, wie beispielsweise einen Performance-Score der oder des Mitarbeitenden, erlauben würde. Diese mathematischen Datenschutzgarantien können durch Bewertungsalgorithmen wie differenzielle Privatheitsmetriken in metrischen Räumen umgesetzt werden (Holohan et al. 2015).

Ausblick

Herauszuheben ist, dass bei der gesamten Systementwicklung die späteren Anwenderinnen und Anwender mit ihren individuellen Verhaltensweisen im Zentrum stehen. Da das ErgoBest-System selbst nicht direkt wertschöpfend ist und unter Umständen den bisherigen normalen Arbeitsfluss beeinflussen kann, ist ein solcher menschzentrierter Ansatz mit Fokus auf Einfachheit, Intuitivität und Datenschutz für die Akzeptanz des Systems unabdingbar. Abschließend fasst ➥ Abb. 2 die Architektur des ErgoBest-Systems schematisch zusammen.

Aktuell befindet sich das Projekt ErgoBest in der Entwicklungsphase. Während die Systemarchitektur und einige grundlegende Softwarekomponenten bereits finalisiert wurden, befinden sich die Nachbildungen der Use Cases im Labor im Aufbau und die ersten Versuche in Vorbereitung. Ziel ist es, den iterativen Entwicklungsprozess zum Ende des Jahres 2022 abzuschließen und im Frühjahr 2023 mit den abschließenden Feldversuchen beim Industriepartner zu beginnen. Zum Ende des Projekts im Mai 2023
wird ein prototypisches Assistenzsystem entwickelt sein, das anschließend in die wirtschaftliche Verwertung übergehen soll.

Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Eurofound: Fifth European Working Conditions Survey. Luxembourg: Publications Office of the European Union, 2012.

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019. Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund, 2020.

Holohan N, Leith DJ, Mason O: Differential privacy in metric spaces: Numerical, categorical and functional data under the one roof. Information Sciences 2015; 305: 256–268.

doi:10.17147/asu-1-225882

Weitere Infos

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Projekt ErgoBest
https://www.interaktive-technologien.de/projekte/ergobest

Abb. 2:  Systemkomponenten des ErgoBest-Assistenzsystems

Fotos und Grafik: eigene Darstellung

Abb. 2: Systemkomponenten des ErgoBest-Assistenzsystems

Kernaussagen

Übersicht zum Projekt ErgoBest

  • Vermeidung von Muskel-Skelett-Erkrankungen und damit verbundener frühzeitiger ­Arbeitsunfähigkeit.
  • Etablierung ergonomischer Best Practices bei industriellen Arbeitsplätzen.
  • Industrielle inertiale Sensorik zur Bewegungserfassung.
  • Kontextbasierte Handlungsempfehlungen und Ergonomiefeedback.
  • Feedback mittels Hand-Held- und/oder Head-Mounted-Display.
  • Menschzentrierter Entwicklungsansatz für ein schlankes und intuitives System.
  • Datenschutz zur Verhinderung von z.B. Leistungsüberwachung.
  • Sowohl für den alltäglichen Einsatz als auch für Trainingszwecke geeignet.
  • Koautorin und Koautoren

    Daniel Knickmeier, M.Sc.
    UNIKIMS GmbH, Kassel, Germany

    Dr. rer. nat. Anna-Katharina Hildebrandt
    MONDATA GmbH, Saarbrücken, Germany

    Dipl.-Wirtsch.-Ing. Andreas Emrich
    Intelligenz GmbH (DFKI); Institut für Wirtschaftsinformatik (IWi)

    Kontakt

    Daniel Freitag, M.Sc.
    Arbeits- und Organisations­psychologie; Universität Kassel; Heinrich-Plett-Strasse 40; 34132 Kassel

    Foto: Arbeits- und Organisationspsychologie, Uni Kassel

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