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Praxisbeispiel

Die gebaute Arbeitswelt aus ­psychologischer Sicht

Sicherheits- und gesundheitsfördernde Aspekte – ein Fallbeispiel

The Built Working Environment from a Psychological Perspective. Safety and Health-Promoting Aspects – A Case Study

Worum es geht

Die bauliche Gestaltung und Ausstattung von Arbeitsräumen basiert auf dem Fach- und Erfahrungswissen von Auftraggeber- und Planerseite sowie auf den jeweils zutreffenden Vorschriften-/Normenwerken und Richtlinien. Zudem wird sie durch das arbeitsmedizinische Fachwissen der Ärzteschaft unterstützt Und darüber hinaus wird das Erfahrungswissen der Nutzerinnen und Nutzer über partizipative Verfahren in die Planungsphase eingebunden. Es fehlt allerdings oftmals, wenn nicht in der Regel, die psychologische Expertise für das Verhalten/Handeln und Erleben der – sowohl in den Prozess als auch im Ergebnis – involvierten Menschen. Insbesondere die Umwelt- oder Ökopsychologinnen und -psychologen begleiten prozessorientiert die Kommunikationsprozesse im Rahmen der trans- und interdisziplinären Zusammenarbeit mit Expertise und können ergebnisorientiert die Sachinhalte eines sozialen, emotionalen und motivationalen Zusammenspiels mit der physischen Arbeitsumwelt mitgestalten. Der Autor entwickelte ein differenziertes Arbeitsmodell1, mit dem die psychologischen Facetten des gebauten Raums als Affordanzen1 mit den physischen Merkmalen in Verbindung gebracht werden und je nach Stakeholder und/oder Nutzergruppe perspektivendifferenziert betrachtet und kommuniziert werden können. So können sichere, gesundheitsfördernde und motivierende Arbeitswelten entstehen, die den Zielen der Organisation und involvierten Menschen in hohem Maße entsprechen und zudem Kosten einsparen. Drei Ergebnisse aus einer Vielzahl von Resultaten, die im Rahmen des Fallbeispiels identifiziert und implementiert wurden, zeigen das im Folgenden beispielhaft.

Kurzvorstellung des Fallbeispiels

Im Rahmen des Umbaus und der Renovierung eines Bürgerbüros einer mittelgroßen Stadt wurde ein Innenarchitekt zusammen mit einem Architekten und Planern der technischen Gebäudeausrüstung (TGA) beauftragt. Das Rathaus befand sich in einem umgebauten Hotelgebäude, in dessen früherer Eingangshalle das Bürgerbüro als kommunikative Schnittstelle zwischen der Stadtverwaltung und den Bürgern gelegen war. Die Arbeitswelt „Bürgerbüro“ war so zu gestalten, dass sie eine situationsangemessene Interaktion zwischen Verwaltung und Bürgerschaft ermöglicht und Arbeitsabläufe optimiert. Im Verlauf der Grundlagenermittlung für die Planung kristallisierten sich verschiedene Zielkonflikte heraus (Näheres dazu in Hegenbart 2018). In der Folge wurde ein Umwelt-/Architekturpsychologe hinzugezogen und mit der Grundlagenanalyse in Form einer nutzerorientierten Programmentwicklung (PE) beauftragt. Die Programmentwicklung beinhaltete eine nutzerorientierte Bedürfnisanalyse (UNA) sowie eine Bestandsevaluation (POE). Da sie aus Zeit- und Kostengründen ohne direkte Bürgerbeteiligung stattfand, waren lediglich Vertreterinnen und Vertreter der Stadtverwaltung und der städtischen Wirtschaftsbetriebe, Mitarbeitende des Bürgerbüros sowie Innenarchitekt und Architekt und später die TGA-Planung beteiligt. Im Rahmen der Untersuchung wurden zudem Rundgänge, Workshops und Interviews durchgeführt. Darüber hinaus wurden weitere Methoden wie beispielsweise die Critical-Incident-Technique (CIT; Flanagan 1954) eingesetzt. Die Ergebnisse der Analysen flossen in eine Programmmatrix (Duerk 1996) ein, die funktionale sowie atmosphärisch-emotionale Qualitäten des Bürgerbüros als Merkmalskriterien in Verbindung mit prozessualen Kriterien von

a) unveränderbaren Rahmenbedingungen,

b) Zielen,

c) Anforderungen,

d) ersten Konzepten und

e) erkennbaren Zielkonflikten in Verbindung brachte.

Diese Matrix diente den Planern als Grundlage für die Umgestaltung und half, Zielkonflikte in einem frühen Stadium zu identifizieren und zu lösen. Das umgestaltete Bürgerbüro bot verbesserte Beratungsplätze, optimierte Sicherheitsvorkehrungen und eine verbesserte sachgerechte Raumqualität (➥ Abb. 1). Die Planungen resultierten in einer zonierten Anordnung der Bürofläche, um Diskretion und Sicherheit zu erhöhen, sowie in der Anpassung von Beleuchtung und Belüftung, um eine Arbeits- und Beratungsumgebung zu schaffen, die ein Wohlbefinden und die Arbeits- und Kommunikationsfähigkeit aller Betroffenen steigerte. Die Programmentwicklung wurde frühzeitig genug initiiert, und die späteren Evaluationsergebnisse zeigten, dass die Mitarbeitenden die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger gut, aber in Einzelfällen auch nicht zutreffend genug antizipieren konnten (Hegenbart 2018, S. 278ff.). Hinsichtlich der wissenschaftlich fundierten Evaluation ergaben sich kategoriale Probleme einer Mehrdeutigkeit der bisherigen Kriteriendifferenzierung in funktionale und emotional-atmosphärische Aspekte (Näheres dazu in Hegenbart 2018, 2019). Sie führte dann zu einem veränderten Ansatz für zukünftige Programmentwicklungen und Evaluationen. Die grundlegenden Gedanken dazu sind unter „Arbeitshandeln und Arbeitsraum“ und zu dem prozessualen Vorgehen unter „Auf dem Weg zum Ziel – Prozessbegleitung“ erläutert. Zunächst sind drei der vielen Ergebnisse aus dem Prozess der Programmentwicklung vorgestellt, die allesamt mittels der CIT entstanden sind.

Drei fallbezogene Beispiele zu ­sicherheits- und gesundheitsför­dernder Arbeitsraumgestaltung

Soziale Unterstützung bei verbalen und tätlichen Angriffen

In Beratungssituationen der Vergangenheit kam es vor, dass Mitarbeitende des Bürgerbüros verbal-emotional und tätlich angegriffen wurden. Sicherheit und Sicherheitsgefühl der Beschäftigten sollten gewährleistet werden. Das übliche Verfahren eines Notruftasters am Beratungsplatz zur Unterstützung durch den hauseigenen Sicherheitsdienst wurde als nicht allein zielführend erkannt, weil der Sicherheitsdienst nicht rechtzeitig genug anwesend sein kann. Rechtzeitige Hilfe kann viel schneller durch die örtlich anwesenden Kolleginnen und Kollegen erfolgen. Dazu müssen diese unmittelbar das Geschehen mit wahrnehmen können und in der Lage dazu sein, wirksame Hilfe zu leisten. Damit die unmittelbare Wahrnehmung möglich ist, ist auf baulicher Ebene eine visuelle Transparenz und eine Hörbarkeit oder „auditive Transparenz“ zwischen den Beratungsplätzen herzustellen. Sie steht aber in Konflikt zu den Anforderungen an Privatheit und Diskretion des jeweiligen Beratungsraums. Zur Lösung des Konflikts wurde seitens des Innenarchitekten eine visuelle Transparenz nur in der Sichtlinie der Mitarbeitenden geplant. Mit einem Akustikplaner konnte eine Raumakustik realisiert werden, die Sprache erst ab einer Lautstärke überträgt, die die übliche Sprechlautstärke übersteigt. Die Trennwände wurden mit spezifischen frequenz- und lautstärkeabsorbierenden Flächen versehen und die Raumdecke nicht geschlossen, sondern frei hängend im Raum realisiert. Auch die Decke ist unter spezifischen Schallabsorptions- und Schallreflektionseigenschaften geplant und gebaut worden (➥ Abb. 2).

Damit die Kollegenschaft sich sowohl in der Lage fühlt als auch in der Lage ist, Hilfe zu leisten, wurde auf kommunikationspsychologischer Ebene seitens des Psychologen ein Zivilcouragetraining empfohlen; ein zentraler Inhalt darin ist beispielsweise, dass die helfende Person in der Regel nicht gegen die angreifende Person handelt, sondern nur der angegriffenen Person beisteht (vgl. auch Jonas et al. 2002).

Mit der Kombination umwelt- und kommunikationspsychologischer Expertise sowie der Raum- und Akustikplanung konnte das kritische Ereignis identifiziert, die Konflikte aus Zielen, Anforderungen und ersten Konzepten gelöst und eine Lösung des Problems aus der Kombination von Ver­hältnis- und Verhaltensprävention gefunden werden.

Abb. 2:  Bürgerbüro – Sichtlinie Mitarbeitende

Fotos: A. Hegenbart

Abb. 2: Bürgerbüro – Sichtlinie Mitarbeitende

Wohlbefinden durch die richtige ­Luftführung

Ein anderes kritisches Ereignis aus Beratungssituationen betraf die gelegentliche und sehr unangenehme Geruchsbelästigung der Mitarbeitenden durch eine gegenübersitzende Person. Eine Lösung entwickelte sich aus der Zusammenarbeit von Innenarchitekt, Architekt und TGA-Planern: die Luftführung im Raum. Die Zuluft wurde im Rückbereich der Mitarbeitenden angeordnet und die Abluftführung im gegenüberliegenden Rückbereich der zu beratenden Bürgerinnen und Bürger. Da die Beratungsräume mit dem übrigen Gesamtraum des Bürgerbüros in einem Luftverbund standen und nicht gesondert zu belüften waren, wurde die Lage der Zuluft- und Abluftführung mit den jeweiligen Öffnungen entsprechend dem Erfordernis für die Beratungsräume für das gesamte Bürgerbüro realisiert. In der Konsequenz wurde der als belästigend empfundene Geruch über den Luftstrom von den Mitarbeitenden im Beratungsraum weg- und nicht auf sie zugeführt, so dass er nicht mehr wahrgenommen wurde (➥ Abb. 3).

Das dargestellte Beispiel veranschaulicht die Relevanz einer umfassenden Kenntnis der Anforderungen an den Arbeitsplatz in einem frühen Stadium und am besten bereits vor Planungsbeginn. Dann besteht der größte Einfluss auf das gebaute Ergebnis bei geringstem Kostenaufwand, die beispielsweise bei späteren Änderungsmaßnahmen entstehen können (s. Abb. 5).

Hygienemaßnahmen für das Sitzen

Eine dritte Maßnahme aus den berichteten kritischen Ereignissen betraf den Stoffbezug der Bestuhlung für die Bürgerinnen und Bürger im Beratungsraum. Es kam manchmal vor, dass eine Person in der Beratungssituation unwillkürlichen Harnabgang hatte. Bislang wurden deshalb Stühle mit einer harten abwischbaren Oberfläche eingesetzt. Einerseits ist eine harte Sitzfläche für einen Beratungsplatz aus verschiedenen Gründen nicht bequem und beeinflusst ein Wohlfühlen in der Beratung ungünstig. Andererseits waren die Mitarbeitenden im Fall der Verunreinigung gezwungen, den Stuhl auszutauschen oder zu reinigen – oder die nächste Person setze sich auf einen nassen Stuhl, wenn es von den Mitarbeitenden nicht vorher bemerkt wurde. Sowohl die Beseitigung der Folgen ist eine unangenehme, wenn nicht anwidernde Arbeit, die zudem nicht zum Arbeitsauftrag der Beschäftigten gehört; aber auch die Konsequenz eines Nichtbemerkens ist für die nachfolgende Person äußerst unangenehm und unhygienisch. Eine Lösung wurde durch eine hygienisch wirksame Bepolsterung der Stühle gefunden. Sie besteht in einer Polsterstruktur mit antibakterieller Wirkung, die zudem von außen nach innen feuchtigkeitsdurchlässig ist, aber nicht in der umgekehrten Richtung. Nachfolgende Personen sitzen trocken und hygienisch sicher.

Die aufgezeigten baulichen und ausstattungstechnischen Lösungen verdeutlichen, dass es neben einer Anschauungsästhetik des Raums auch eine Ästhetik des Gebrauchs (Feige 2018) gibt. Der Gebrauch steht in einem Bezug zur Welt und verbindet eine Funktionalität mit institutionell-organisatorischen Aspekten und zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. Feige 2018, S. 84).

Während eine Ästhetik der Anschauung positiv auffällt, wenn sie gegeben ist, ist eine Gebrauchsästhetik weitgehend unsichtbar und fällt nur dann auf, wenn es sie nicht gibt – also das Gestaltete nicht passend zum Gebrauch gestaltet ist. Wie aber können nun alle Merkmale in den drei Dimensionen des Gebrauchs – Funktionalität, institutionell-organisatorische Aspekte und zwischenmenschlichen Beziehungen – erschöpfend aufgedeckt werden? Wie kann Arbeitshandeln und der dazu passende Arbeitsraum in den vielfältigen Handlungs- und Erlebensfacetten mit Bezug auf die Sicherheit und Gesundheit und auf ein motiviertes, effektives und effizientes Arbeiten, beschrieben werden?

Abb. 3:  Beratungsraum Luftführung

Fotos: A. Hegenbart

Abb. 3: Beratungsraum Luftführung

Arbeitshandeln und Arbeitsraum

Der Autor hat dazu in der Folge zur nutzerorientierten Programmentwicklung für das Bürgerbüro und für die Evaluation des Projekts nach einer mehrjährigen Nutzungszeit (POE) ein ökopsychologisches2 Arbeitsmodell entwickelt, das Facetten der gebauten Arbeitswelt in ihren psychologischen Wirkungen weitgehend erfasst und beschreibbar macht: das affordanzbasierte und perspektivendifferenzierte Facettenstrukturmodell der gebauten Umwelt (Hegenbart 2018).

Arbeitshandeln findet als produktives und soziales Handlungsgeschehen in einer jeweils spezifischen Umgebung statt. Roger Barker (1968) und James Gibson (1982), beide beeinflusst von Kurt Lewin, haben sich mit der Wechselwirkung zwischen Individuen und ihrer Umwelt befasst, wobei Barker das Verhalten von Individuen in Umgebungen und Gibson die Angebote der Umgebung an das Individuum betont. Barkers Behavior-Settings definieren, wie eine Umgebung überindividuelle Verhaltensmuster unterstützt, ohne jedoch zu spezifizieren, wie genau diese Umgebung das Verhalten beeinflusst. Dabei besteht die Umgebung nicht nur aus physischen Objekten, sondern auch aus Rollen und Normen, die das Verhalten der Personen in diesem Setting steuern. Es kann in der Paradigmenstruktur Gerhard Kaminskis (1986) auf verschiedenen Stufen analysiert und beschrieben werden. Gibsons Affordanzen bieten eine detailliertere Sichtweise, indem sie spezifische Angebote der physischen Umgebung beschreiben, die von jedem Individuum wahrgenommen und genutzt werden können, unabhängig davon, wer diese Angebote nutzt. Durch die Integration von Barkers und Gibsons Ansätzen kann das Konzept eines Behavior-Settings erweitert werden, indem es als eine Kombination von Umgebungsmerkmalen beschrieben werden kann, die spezifische Affordanzen für überindividuelles Verhalten bieten. Das ermöglicht die physische Umwelt präziser zu beschreiben und zu verstehen, wie bestimmte Umgebungsstrukturen das Verhalten in einem Behavior-Setting formen und unterstützen.

Vor diesem Hintergrund wurde im Fallbeispiel das Behavior-Setting nach dessen Paradigmenstruktur neu beschrieben und die bisherigen funktionalen sowie die atmosphärisch-emotionalen Merkmalskriterien der Programmmatrix in Affordanzen übersetzt und zu den physischen Umweltmerkmalen in Beziehung gesetzt (➥ Abb. 4). Eine dynamische Perspektive auf die Angebote einer räumlich-physischen Umwelt (Affordanzen) löst die eher statische Betrachtung von Anforderungen an die Umwelt ab; Letztere sind oft mit einem festen konzeptionellen und damit beschränkendem Vorwissen verbunden. Ein kleines Beispiel dafür ist der oben beschriebene Sitzplatz für die Bürgerinnen und Bürger: Die Anforderung einer Anzahl von bequemen Sitzplätzen reicht nicht, sie müssen zusätzlich spezifische Eigenschaften aufweisen, wie hier unter anderem die hygienische Polsterung. Der Perspektivwechsel aktiviert in transdisziplinären Beteiligungsprozessen und mit gezielten Methoden das implizite Wissen der Beteiligten, das dann explizit zum Ausdruck gebracht und in Affordanzen des Arbeitsraums übersetzt werden kann. Im Ergebnis entsteht eine differenziertere Sicht auf die Interaktion zwischen den Nutzerinnen und Nutzern und der gebauten Umwelt – und nicht nur für ein Bürgerbüro, sondern auch für andere Arbeitsumwelten. Die Komplexität der Gestaltung von Arbeitsräumen wird damit umfassend und empirisch fundiert sowohl theoretisch, methodologisch als auch praxeologisch anwendbar untermauert. Die notwendigen Affordanzen für ein spezifisches Setting beziehungsweise Arbeitshandeln können umfassender ermittelt und in eine Programmmatrix überführt werden, die als Gestaltungsgrundlage den Bauplanenden als Entwurfs- und Planungsgrundlage zur Verfügung gestellt werden kann.

Abb. 4:  Facettenstrukturmodell von Affordanzen der gebauten Umwelt

Abb. 4: Facettenstrukturmodell von Affordanzen der gebauten Umwelt

Auf dem Weg zum Ziel – Prozess­begleitung

Die gebaute physische Arbeitsumwelt ist allerdings nur ein Teil der Umgebung eines Behavior-Settings; zusätzlich steuern Rollen, organisationskulturelle Normen und Produktivitätsziele das Handeln und Erleben der Personen in diesem Setting. Entsprechende soziale und psychologische Aspekte sind ebenfalls zu berücksichtigen, insbesondere wenn und weil es um Veränderungen geht. In jüngerer Zeit haben sich unter anderem auch deshalb – und wie in diesem Fallbeispiel – partizipative Prozesse mit den Betroffenen etabliert. Allerdings ist auch transdisziplinäre Zusammenarbeit ein zentraler prozessualer Faktor. Fachleute aus verschiedenen Disziplinen müssen vereint ein holistisches und gemeinsam geteiltes Verständnis der Arbeitsbedingungen entwickeln. Außerdem sind manche Problemlösungen gar nicht über den Arbeitsraum, sondern über strukturelle organisationale Veränderungen viel besser zu lösen; auch das ist eine Erfahrung aus dem Planungsprozess des Fallbeispiels. Eine ökopsychologisch fundierte Prozessbegleitung optimiert und beschleunigt diese Prozesse, indem sie die Dynamik zwischen den beteiligten Stakeholdern wahrnimmt und zielführend steuert. In Transformationsprozessen trägt sie nicht nur dazu bei, Widerstände zu erkennen und abzubauen, sondern unterstützt auch dabei, die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der Beschäftigten zu fördern und eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens zu schaffen, die auch über erfolgreiche Transformationsprozesse hinausgehend entscheidend ist. Zudem können mediativ die unterschiedlichen Perspektiven und Fachsprachen der beteiligten Disziplinen übersetzt und integriert, Missverständnisse geklärt und Konflikte konstruktiv gelöst werden. Das macht eine Zusammenarbeit effizienter und effektiver. In der Planung und Umsetzung von Arbeitsumgebungen ermöglicht dies eine reibungslosere Kommunikation und eine stärkere Ausrichtung aller Beteiligten auf das gemeinsame Ziel. Letztlich ermöglicht eine Integration von Umwelt- oder Ökopsychologinnen und -psychologen eine tiefere und zielführendere Integration von Affordanzen in die Gestaltung von Arbeitsplätzen. Einzelne Kategorien von Maßnahmen sind beispielsweise:

a) Unterstützung der Teamdynamik,

b) Förderung von Kreativität und Innovation,

c) Management von Stress und Belastung,

d) Förderung interdisziplinären Lernens,

e) Bewältigung von Veränderungen und Unsicherheiten,

f) Erhöhung des Engagements und Motivation und

g) bedarfsweise Integration weiterer externer Stakeholder.

Die psychologische Prozessbegleitung muss für ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis frühzeitig und vor Beginn der Gebäude-TGA- und Innenraumplanung beginnen; sie ist Teil der sogenannten Leistungsphase 0 und setzt sich in den weiteren Leistungsphasen der Architekten-und Ingenieursplanung fort (➥ Abb. 5). Je früher, desto effektiver kann sie die Grundlagenanalyse moderieren und mittels der PE rechtzeitig dazu beitragen, nicht nur funktionale, sondern auch psychologische und soziale Bedürfnisse in die Gestaltung einfließen zu lassen – mit dem Ziel und Ergebnis, sowohl die Zufriedenheit, Gesundheit und Sicherheit als auch die Motivation und Produktivität der Mitarbeitenden zu steigern.

Fazit

Die Anwendung des affordanzbasierten Facettenstrukturmodells in der Programmentwicklung für Arbeitsumgebungen stellt eine grundlegende Basis dar, um gesunde, sichere und motivierende Arbeitsplätze zu schaffen. Die Integration psychologischer Prozessbegleitung schon vor und in den frühen Phasen der Planung ermöglicht nicht nur, passende menschengerechte Umgebungen zu gestalten, sondern auch Kosten, beispielsweise aus Stressbelastung, effektiv zu reduzieren. Forschungsergebnisse aus der SWiNG-Studie der Schweizer Gesundheitsförderung (Konkol et al. 2017; Jenny et al. 2011) unterstreichen deren ökonomische Bedeutung: Unternehmen können stressbedingte Produktivitätsverluste, die bei den forschungsbeteiligten Unternehmen bis zu 8000 CHF pro Jahr und Person betrugen, deutlich minimieren. Das betont die Wichtigkeit einer holistischen Strategie der Verhältnis- und Verhaltensprävention; sie schont sowohl menschliche als auch finanzielle Ressourcen und fördert Gesundheit, Sicherheit, Motivation und Produktivität.

Interessenkonflikt: Das affordanzbasierte und perspektivendifferenzierte Facettenstrukturmodell wurde mit dem NOBIS Arbeitsschutzpreis 2020 des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Der Autor beforscht es weiterhin auf wissenschaftlicher und anwendungspraktischer Ebene im Rahmen einer Promotion und der psychologischen Prozessbegleitung in Veränderungsprozessen von auftraggebenden Unternehmen und Organisationen. Sonstige Interessenkonflikte liegen nicht vor

Literatur

Barker RG: Ecological psychology: Concepts and methods for stu- dying the environment of human behavior. Stanford: Stanford University, 1968.

Gibson JJ: Wahrnehmung und Umwelt: Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. U-und-S-Psychologie. München: Urban & Schwarzenberg, 1982.

Hegenbart A: Facetten von Affordanzen gebauter Umwelt: Eine Perspektivendifferenzierte Analyse eines Innenraums für kommunale Dienstleistungen. Wiesbaden: Springer, 2018.

Jenny G, Inauen A, Brauchli R et al.: Projekt SWiNG – Schlussbericht der Evaluation. Im Auftrag und unter Mitwirkung der Gesundheitsförderung Schweiz und des Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV). Zürich, 2001.

Kaminski G: Paradigmengebundene Behavior Setting-Analyse. In: Kaminski G, Bauer U (Hrsg.): Ordnung und Variabilität im Alltagsgeschehen. Göttingen: Hogrefe, 1986, S. 154–176.

Kaminski G, Fleischer F: Ökologische Psychologie: Ökopsychologische Untersuchungs- und Beratungspraxis. In: Hartmann HA (Hrsg.): Psychologische Begutachtung, U-&-S-Psychologie. München: Urban & Schwarzenberg, 1984, S. 329–358.

Konkol J, Schanné F, Lange S: Gesundheitsförderliche Büroräume und Workplace Change Management – ein Leitfaden: Handlungsempfehlungen für Unternehmen in der Schweiz, um bei der Planung, Implementierung und Bewirtschaftung von Büroräumen die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden zu fördern. 2., korr. Aufl. Bern, Lausanne: Gesundheitsförderung Schweiz, 2017.

Die gesamte Literaturliste mit allen Quellen kann auf der Homepage der ASU beim Beitrag eingesehen werden (asu-arbeitsmedizin.com).

doi:10.17147/asu-1-371791

Abb. 5:  Einfluss-Kosten-Verhältnis (eigene Darstellung)

Abb. 5: Einfluss-Kosten-Verhältnis (eigene Darstellung)

Kernaussagen

Ein Praxisbericht mit drei Beispielen aus einer Vielzahl von Ergebnissen beschreibt, wie Arbeitsräume so gestaltet werden können, dass sie das Arbeitshandeln und die Interaktionen der Nutzenden und Stakeholder unterstützen und fördern. Dies führt zu einer verbesserten ­Sicherheit, Gesundheit und Motivation am Arbeitsplatz und damit auch zu einer Verringerung von Stressbelastung. Er zeigt ...

  • ... die Bedeutung einer Einbindung ökopsychologischer Expertise in die Planung von ­Arbeitsumgebungen. Dieser Ansatz ermöglicht es, nicht nur funktionale, sondern auch ­psychologische und soziale Bedürfnisse der Nutzenden in die Gestaltung einzubeziehen.
  • ... die Erfolgsaussichten auf, (öko)psychologische Prozessbegleitung schon vor und während der frühen Phasen der Planung zu integrieren. Sie trägt dazu bei, die Nutzerbedürfnisse und Stakeholder-Interessen effektiver und effizienter zu identifizieren und in die Gestaltung der Arbeitsumgebung einzubeziehen.
  • ..., wie mit einem ökopsychologischen Perspektivwechsel von Anforderungen auf Affordanzen, implizites Wissen explizit gemacht und erweitert wird. Die physischen Umgebungsmerkmale von Behavior-Settings des Arbeitshandelns können über das Facettenstrukturmodell der ­Affordanzen zielgerichtet umfassend und praxistauglich erfasst werden und die Erkenntnisse in einer Programmmatrix allen Planungsbeteiligten verständlich kommuniziert werden.
  • ..., dass durch die frühzeitige Berücksichtigung psychologischer und sozialer Aspekte nicht nur
    ein gesundheitsförderndes Arbeitsumfeld geschaffen wird, sondern auch Kosten durch ­reduzierte Stressbelastungen und die damit verbundenen Produktivitätsverluste, eingespart werden können.
  • ..., dass mit dem Einsatz ökopsychologischer partizipativer und interaktiver Methoden, die nutzerorientierte Analyse der Arbeitsumgebung vollständiger wird und wesentlich zur ­Optimierung der Arbeitsqualität beiträgt.
  • Kontakt

    Dipl.-Ing. Dipl.-Psych. Andreas Hegenbart
    Diplompsychologe BDP in Arbeits-, Organisations- und Architekturpsychologie; Architektur – Mensch – ­Organisation; Zellerstraße 1, 78465 Konstanz

    Foto: Patrick Pfeiffer

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